Als wir Cartagena verlassen, liegen 1000 km und noch drei Wochen Zeit vor uns. Lange war unklar, wie wir diese Strecke ohne den Bus bewältigen würden – Flugzeug, Überlandbus, Auto? – doch nun sitzen wir ganz einfach in einem kleinen, vollgepackten Mietwagen.
Herzlich verabschiedet von Jacira, unserer Gastgeberin, verlassen wir mit ungewohnt wenig Überblick über die Straße, dafür aber mit Klimaanlage, die Stadt. Die Ausläufer des Hurrikans Beryl verabschieden uns mit Wellen im sonst so ruhigen karibischen Meer, heftigem Wind und Sturzbächen von Regen, die die Straßen in Sekundenschnelle überschwemmen.
Wir fahren nach Süden, zurück in Richtung der Berge, dorthin, wo es endlich wieder ein wenig kühler ist.
Unser erstes Ziel ist Mompóx. Ein kleines verschlafenes Städtchen am Ufer des großen Rio Magdalena. Ein Fußweg führt im Schatten alter Bäume zwischen Fluss und kleinen, mehr oder weniger renovierten Häuschen aus der Kolonialzeit entlang, ein Stück ortseinwärts überragen die großen, farbig leuchtenden Kirchen weitläufige Plazas, auf denen sich Taubenschwärme und streunende Hunde tummeln und Touristen Restaurants und Cafés beleben. Viel mehr gibt es hier nicht zu sehen – es ist wohl vor allem die alternde Schönheit und gemächliche Atmosphäre dieses Ortes, die die Touristen anzieht. Vielleicht – für Literaturinteressierte – auch die Vermutung, Mompox habe als Vorbild gedient für den Ort Macondo in „Hundert Jahre Einsamkeit“ dem großen Werk des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez.
Wir erreichen Mompóx gegen Abend, als die Hitze des Tages schon ein wenig abgeklungen ist und schlendern entlang des Rio Magdalena auf der Suche nach einem Ort zum Abendessen. Auf der Plaza kommt ein Mann auf uns zu und bietet seine Dienste als Tourguide für den folgenden Tag an. Da wollen wir schon wieder unterwegs sein, doch wir fragen ihn nach einer günstigen Möglichkeit, zu Abend zu essen. Er überlegt kurz, steigt dann mit seinem Sohn aufs Motorrad und fährt uns langsam voraus. Ein Stück ortseinwärts stoppt er auf einem großen Platz, umgeben von kleinen Läden im Schatten einer altehrwürdigen Kirche. Hier stehen kleine Grills, mobile Mini-Küchen und Stände mit Saftpressen, hier treffen sich die Einheimischen zum Essen unter freiem Himmel. Unser Guide übergibt uns einer der Frauen am Grill und schon sitzen wir an einem der wackeligen Tische mit bunter Plastiktischdecke. Wir können wählen zwischen Fleisch oder Hühnchen mit Kartoffeln und Yuca und dazu – hier ist die Auswahl größer – große Becher frisch gepressten Safts aus Maracuja, Guave, Banane, Zapote. Am Nachbartisch sitzt einer, der wohl immer hier sitzt und die Weltläufe kommentiert, Hunde und Katzen streifen auf der Suche nach Essbarem unter den Tischen umher und versetzten Joschi in helle Aufregung, Kinder spielen Ball, ein paar Tische weiter faltet eine ganze Familie Pappkartons zu kleinen Schalen, ein Mann schneidet einen riesigen Berg Kartoffeln in Stäbchen, ein anderer schält Würstchen aus ihrer Pelle – hier wird es heute Abend noch Salchipapa geben, die allgegenwärtigen Würstchen mit Pommes.
Auf dem Rückweg zu unserem AirBnB ist es schon dunkel. Kreuz und quer suchen wir uns unseren Weg auf den schmalen gepflasterten Straßen inmitten spanisch anmutender Architektur und durch die abseits davon liegenden ungeteerten Gassen zwischen kleinen, einfachen Häuschen hindurch, werfen Blicke in die offenen Hauseingänge und luftigen Innenhöfe, entdecken überall die hier typischen geflochtene Schaukelstühle und Bewohnerinnen und Bewohner, die darin vor den Fernsehern sitzen, gespannt darauf wartend, dass endlich der Anpfiff ertönt. Es ist Copa América und Kolumbien spielt gegen Brasilien.
Zwei Stunden später hat Kolumbien gewonnen, die Stimmung ist gut in Mompóx.
Am nächsten Morgen fahren wir früh weiter. Es gibt kaum lockende Zwischenstopps auf unserer weiteren Strecke, Übernachtungsmöglichkeiten mit Hund für nur eine Nacht sind schwer zu finden und so beschließen wir, die 480km bis zu unserem nächsten Ziel, dem kleinen Ort Barichara, in einer Tour zu bewältigen. Es wird ein langer, ein sehr langer Tag im Auto. Doch nach unzähligen Kurven, mehreren Pässen, vielen kleinen Orten und 11 Stunden später sind wir angekommen – und erst einmal sprachlos vor Staunen! Unser Häuschen für die nächsten Tage ist einfach wunderschön. Ganz am Ende einer Reihe weiß getünchter kleiner Häuser, miteinander verbunden durch die hohen weißen Mauern, liegt es hinter einer zartgrünen Tür verborgen und begeistert uns alle vom ersten Moment an. Ein Innenhof voller Pflanzen, eine steinerne Treppe zu einer großen, überdachten, ansonsten aber offenen Ebene mit Küche und Wohnbereich, ein großer Tisch, zwei Hängematten. Einfache, aber wunderschöne Schlafzimmer mit hölzernen Fensterläden zum Wohnbereich, dahinter ein Bad unter freiem Himmel, überall Blumen und die unterschiedlichsten Kakteen. Wir können es kaum glauben – hier können wir es gut eine Weile aushalten, hier fühlt es sich so richtig nach Urlaub an.
Die nächsten Tage genießen wir einfach das Nichtstun. Freuen uns immer wieder über die Schönheit unseres Häuschens, genießen es, gleichzeitig drinnen und doch draußen zu sein, geschützt hinter der Mauer und gleichzeitig mit weitem Blick darüber hinweg, nur wenige Minuten zu Fuß vom Zentrum entfernt und doch in völliger Stille. Barichara gehört zu den schönsten Orten Kolumbiens, kein einziges modernes Gebäude wurde hier erbaut, der ganze kleine Ort wirkt wie im achtzehnten Jahrhundert stehen geblieben. Egal welche der kopfsteingepflasterten Gassen wir entlanggehen, immer reihen sich zu beiden Seiten die kleinen weißen Kolonialhäuser mit den farbigen Türen und Fensterrahmen aneinander, ranken blühende Sträucher über die Mauern und wachsen Kakteen aller Art auf jedem Fleckchen Erde. Die Stimmung ist friedlich und entspannt. Ja, es kommen viele Touristen hierher, doch jenseits des zentralen Platzes mit der großen Kathedrale wird das Dörfchen seinem Namen sehr gerecht: „Barachala“ ein Wort aus der Sprache der Guarani bedeutet ein „Ort zum Ausruhen“.
Wir ruhen aus, erholen uns, können durchatmen nach den vielen Veränderungen und Anstrengungen der vergangenen Wochen und beschließen, zwei Tage länger als geplant hierzubleiben. Ab und zu spazieren wir durchs Dörfchen, trinken Limonada de Coco mit Aussicht auf den Canyon tief unter Barichara, stöbern durch die kleinen Läden mit den vielen schönen Dingen und besuchen eine Papierwerkstatt, eine lokale Fraueninitiative, die aus unterschiedlichsten Pflanzenfasern und mit natürlichen Farben die allerschönsten Papierkunstwerke herstellt. Im dazugehörenden Garten bewundern wir die Ursprungspflanzen und die dort lebende Schildkrötenfamilie.
Schließlich ist es Zeit weiterzureisen. Schweren Herzens verlassen wir unsere kleine Oase und fahren weiter in Richtung der Berge. Hoch hinauf in die Anden geht es noch einmal und es wird kühler und kühler. Gegen Abend erreichen wir weit abseits jeder großen Straße unser nächstes vorübergehendes Zuhause. Ein Häuschen mit tief heruntergezogenem Dach auf 3000m Höhe und weitem Blick über See, Kuhweiden und Berge. Ein bisschen fühlen wir uns wie im Allgäu – Allgäu in großer Höhe. Und wir merken, dass wir uns vielleicht zu sehr an die Hitze gewöhnt hatten – die 16 Grad hier fühlen sich sehr kalt an, unsere warmen Pullover und dicken Socken jedoch schippern gerade über den Atlantik. Zum Glück gibt es viele kuschelige Decken und einen Kamin und mit ein wenig Ausdauer schaffen Jan und die Jungs es, ein Feuer zu entzünden, das uns nach und nach etwas Wärme schenkt. Joschi ist glücklich endlich wieder einmal im Grünen zu sein, wie wild geworden flitzt er in großen Bögen über die saftige Wiese und kann sich kaum beruhigen vor Begeisterung.
Die Luft duftet nach Eukalyptus und wir genießen es einfach, inmitten der Natur, in Ruhe und schöner Umgebung zu sein.
Einen Zwischenstopp machen wir noch, bevor wir zwei Tage später Bogotá, unser endgültig letztes Ziel erreichen. Wir besichtigen die Salzmine von Nemocón. Schon die Muisca, die hier lebenden Indigenen, gewannen hier vor Hunderten von Jahren durch Verdunstung von Salzlake in großen Tonbehältnissen wertvolles Salz. Nach der Kolonialisierung wurde die Salzgewinnung durch die Spanier in großem Stil und unter Ausnutzung und Versklavung der indigenen Bevölkerung vorangetrieben. Auch Alexander von Humboldt, auf dessen Spuren wir während unserer Reise schon öfter gestoßen sind, war um das Jahr 1801 hier und trug maßgeblich zu einem effektiveren und sichereren Abbau des Salzes bei. Martín, unser Guide, erzählt uns voller Leidenschaft von der Geschichte und den Geschichten der Mine. Ausgestattet mit Schutzhelmen gehen wir tief im Erdinneren mit ihm durch die salzigen Gänge, vorbei an mit filigranen Salzkristallen überzogenen Wänden und stehen immer wieder fasziniert vor den farbig beleuchteten tiefen Salzseen, die einst zur Auswaschung des Salzes aus dem Gestein dienten. Durch die hohe Dichte gleichen sie Spiegeln, die den Raum in scheinbar unendliche Tiefen vergrößern. Wir treffen auf eine Grotte, die an Alexander von Humboldt erinnert, einen Kirchenraum, in dem regelmäßig Gottesdienste gefeiert und Konzerte gespielt werden, sehen einen der größten jemals gefundenen Salzkristalle, von einem Bergarbeiter für seine Familie zu einem Herzen geformt und stehen mitten im Drehort für den Film „33“ (auf Deutsch „69 Tage Hoffnung“), der die dramatische Geschichte von 33 verschütteten Bergleuten in einer Mine in Chile nacherzählt.
Ganz zum Schluss tauchen wir unsere Hände für wenige Minuten in das kalte, salzhaltige Wasser, dem unser Guide große Heilwirkung nachsagt und haben wenig später zarte weiße Krusten an den Fingern.
Zurück auf der Erdoberfläche sind die 60km bis Bogotá nur noch ein Katzensprung, und zugleich unsere letzten von insgesamt etwas mehr als 30.000 km auf Südamerikas Straßen.
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