Seit mehr als einem Monat sind wir nun schon in Kolumbien – und bisher habe ich noch keinen Text dazu geschrieben. Es war nicht der richtige Zeitpunkt da, nicht die richtige Stimmung, nicht die Ruhe oder Inspiration. Währenddessen ist das Ende unserer Reise immer näher gerückt – und deshalb schreibe ich euch nun meine Gedanken zu unserem bevorstehenden Abschied.
Ihr werdet lesen, dass wir auswählen mussten, wofür unsere Zeit hier noch reicht und passend dazu habe ich für die weiteren Berichte einzelne Erlebnisse ausgewählt und beschrieben, wie sie mir gerade wieder in den Sinn gekommen sind und ohne sie chronologisch zu ordnen. Diese „Kolumbianischen Miniaturen“, werden euch heute und in den kommenden Tagen und Wochen immer wieder erreichen. Habt viel Freude damit.
Abschiedsgedanken
Der Abschied von unserem Reiseleben ist ein Abschied in vielen kleinen Schritten. Eigentlich beginnt er schon mit unserer Einreise nach Kolumbien, damit, dass uns bewusster wird und wir uns bewusst machen müssen, wie wenig Zeit uns hier noch bleibt.
Es ist Ende Mai, als wir die Grenze von Ecuador nach Kolumbien überqueren.
Ende Juni wird sich der Bus schon, einen Monat früher als geplant, auf den Heimweg machen. Es ist die für uns einzige Möglichkeit, ihn noch zu verschiffen, alle Juli-Schiffe wurden annulliert. Und Ende Juli werden wir, auch früher als geplant, nach Hause fliegen.
Knapp zwei Monate Zeit haben wir also noch und nur noch vier Wochen mit dem Bus.
Innerhalb von vier Wochen müssen wir die Küste, müssen wir Cartagena erreichen. Das ist neu in diesem Jahr – zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein zu müssen. Das heißt, wir müssen auswählen, entscheiden, was wir noch sehen und erleben wollen und auf welche Umwege, Abstecher, Nebenstraßen wir verzichten.
Diese Ziel- und Zeitvorgabe wirkt sich aus, auf uns und unsere Art zu reisen, wir schöpfen nicht mehr aus der Fülle der Möglichkeiten, stattdessen verengt sich unser Spiel- und Spontaneitätsraum zu einem Korridor des noch Machbaren. Ganz unwillkürlich sind wir mit unseren Gedanken oft in der Zukunft, es fällt uns schwerer, ganz im Moment und im jeweiligen Tag zu sein.
Vielleicht ist dies ein erster Schritt zurück in unsere Alltagsrealität – weniger Spiel, mehr Anpassung an Zeitpläne und Vorgaben, auf die wir keinen Einfluss haben. Eine Umstellung, die uns bewusst macht, dass sich unser Leben hier trotz aller tagtäglichen Anforderungen in einer Dimension von Vorgaben – Freiheit und zeitlicher Selbstbestimmung entfalten konnte, wie es zuhause kaum vorstellbar ist. Wir erleben jedoch auch, wie schnell wir wieder in die alten, bekannten Muster des Funktionierens und Arrangierens, auf die wir während der Reise so gut verzichten konnten, zurückspringen (oder -fallen?) können.
Wir wählen also aus, entscheiden, an welchen Orten wir noch Zeit verbringen wollen, verzichten auf andere und arbeiten uns schneller als uns eigentlich lieb ist, voran in Richtung karibischer Küste.
Doch die Ankunftszeit des Schiffes ist nicht verlässlich, eine Verspätung von bis zu zwei Wochen sei möglich. Wir wissen also nicht, wieviel Zeit wir wirklich noch haben, bevor wir in Cartagena sein müssen. Kalkulieren wir die Verspätung ein und fahren noch weiter entlang der Küste, machen einen Ausflug auf eine der Inseln oder sogar noch einmal einen Abstecher ins Landesinnere? Oder gehen wir davon aus, dass das Schiff pünktlich ist, fahren nach Cartagena und müssen dann möglicherweise viele Tage dort abwarten? Je näher der geplante Tag der Verschiffung rückt, umso mehr kommen wir ins Grübeln, werfen mehrmals täglich alle Pläne wieder um, uns fehlt die Grundlage, auf der wir Entscheidungen treffen können. Die Ungewissheit in Kombination mit der drückend-schwülen Hitze, Myriaden von Stechmücken und Schwierigkeiten, in der dicht besiedelten Küstenregion ruhige Stellplätze für die Nacht zu finden, setzt uns zu. Unser aller Nerven sind angespannt, die Stimmung ist fragil und gereizt.
Nach einer unruhigen, kurzen Nacht am Rand eines Dorfes, als wir gerade darüber nachdenken, doch noch weiter entlang der Küste zu fahren, bekommen wir von Luis, dem Agenten der Schifffahrtsgesellschaft, die Nachricht, dass das Schiff pünktlich in Cartagena ankommen werde. Gut, wir wollen es glauben, haben ein Datum, an dem wir uns orientieren können und damit ist es Zeit für den nächsten Schritt: der Bus muss reisefertig gemacht werden.
Wir nisten uns also für ein paar Tage auf der Geflügelfarm von Graham im Hinterland von Cartagena ein und beginnen den Bus auszuräumen, sortieren, verschenken glücklicherweise nicht gebrauchte Medikamente an andere Reisende und lassen unsere Gasflaschen, die nicht mit aufs Schiff dürfen, hier. Drei Tage sind wir damit beschäftigt, der Bus wird ungemütlicher, ungewohnt ordentlich, eine für die Verschiffung eingebaute provisorische Trennwand zwischen Fahrerkabine und Wohnraum schränkt unseren Wohn- und Bewegungsspielraum weiter ein. Und dann erfahren wir, dass das Schiff drei Tage Verspätung hat. Aber nun ist es für uns zu spät, um noch einmal umzuplanen, der Bus ist so nicht mehr bewohnbar, unser Airbnb in Cartagena gebucht.
Wir verbringen unsere letzte Nacht im Bus – ein bisschen wehmütig, und zugleich mit so vielen organisatorischen Fragen im Kopf, dass wenig Raum dafür bleibt.
Am nächsten Morgen verlassen wir Graham und seine Geflügelschar, fahren ein letztes Mal gemeinsam im Bus, gehen ein letztes Mal mit viel Stauraum einkaufen, bahnen uns bei brütender Hitze einen Weg durch das dichte Gedränge auf Cartagenas Straßen. Und dann sind wir da, angekommen an unserer kleinen Wohnung zwischen Altstadt und Strand, einen Parkplatz direkt vor der Tür.
Nun ziehen wir also wirklich aus. Nach knapp 11 Monaten, in denen der Bus unser Zuhause war, ziehen wir wieder in eine Wohnung. Wehmut, Traurigkeit, Abschiedsschmerz, auch Erleichterung – alles ist da ohne wirklich Raum zu haben im Umzugsdurcheinander.
Wir sind dankbar für die Klimaanlage, genießen das unbegrenzt fließende Wasser, die beiden Zimmer, die kleine Terrasse – und sind einfach erschöpft. Energie- und antriebslos verbringen wir die ersten Tage einfach nur in der Wohnung.
Es ist, als müssten wir uns erst wieder daran gewöhnen, an einem Ort zu bleiben und uns darin zurechtzufinden. Es fehlt das tägliche Überlegen, wohin wir fahren, wo wir einkaufen, wo übernachten können, es fehlt das Ziel, die Perspektive, die Möglichkeit, den Tagesablauf jederzeit so zu ändern, wie es gut für uns ist, es fehlt das Gefühl, noch so viel Zeit zu haben. Wir sind jetzt einfach angekommen.
Und zugleich merke ich, dass mit dem Unterwegssein auch immer eine Anspannung verbunden war, die nun hier, in unserer kleinen Wohnung abklingen kann. Es tut auch gut zu wissen, wo wir schlafen, einkaufen und den Tag verbringen werden, ohne planen und suchen zu müssen. Es tut auch gut, mehr Raum zu haben, nicht jeden Tag alles einpacken und zusammenräumen zu müssen, es ist auch erholsam, sich nicht jeden Tag neu auf eine veränderte Umgebung einstellen zu müssen.
Was besser ist? Ich weiß es nicht. Und ist das überhaupt die richtige Frage? Die Wehmut über das Ende des Lebens im Bus bleibt – ein Aufzählen und Abwägen der Vor- und Nachteile führt nicht weiter. Es ist ein Abschied von einem besonderen Jahr, von einer Zeit und einer Art zu leben, in die wir mit viel Neugier und Abenteuerlust, mit vielen Hoffnungen, Vorstellungen und Erwartungen aufgebrochen waren. Vieles hat sich erfüllt, manches wurde enttäuscht, war ganz anders, auch schwieriger, als erwartet und manches wurde als viel zu hoch gegriffen enttarnt. Doch es ist zu früh, ein Fazit zu ziehen – und vielleicht muss es auch in Zukunft keines geben – momentan sind wir noch zu sehr mittendrin, zu viel liegt auch jetzt noch vor uns.
Nach zwei Tagen haben wir so viel Energie gesammelt, dass wir weitermachen können mit unseren Vorbereitungen. Der Bus muss für die Verschiffung innen und außen blitzblank sein, alles muss seefest verstaut und gesichert werden. Also verbringen Jan und ich einen schweißtreibenden Vormittag unter den interessierten Blicken der Nachbarschaft damit, den Bus auf Hochglanz zu bringen. Sand, Staub, Hundehaare, Eintrittskarten, Andenken, Steine, Muscheln, Federn, getrocknete Samen exotischer Früchte, Strand- und Landschätze, unzählige Kostbarkeiten der letzten Monate finden wir in Ritzen, Ecken, Taschen und Döschen – und putzen, sortieren, verstauen und verpacken…
Und dann erfahren wir, dass unser Schiff noch immer und länger als geplant vor dem Hafen von Altamira in Mexiko vor Anker liegt. Für uns bedeutet das vier weitere Tage in Cartagena. Wir verlängern unser Airbnb, versuchen für jeden Tag eine kleine Unternehmung zu planen, uns mit der Hitze zu arrangieren und beginnen, die Stadt zu erkunden. Wir sind nicht die einzigen, deren Reise hier in diesen Tagen zu Ende geht. Die Wege vieler reisenden Familien führen gerade nach Cartagena und so treffen wir uns noch einmal mit Prune, David und den Kindern und auch mit einer holländischen Familie mit drei Jungs, der wir zuletzt im Oktober in Ushuaia, ganz am anderen Ende Südamerikas, begegnet sind.
Alle blicken mit großer Dankbarkeit zurück auf ihr Reisejahr, die Kinder freue sich auf ihre Freunde und ihre vertraute Umgebung, zumindest allen Eltern gemeinsam ist aber auch ein wenig Wehmut, Abschiedsschmerz und die Frage, wie es gelingen kann, wieder in den „normalen“ Alltag zurückzukehren.
Und nun ist Jan mit dem Bus auf dem Weg zum Hafen. Heute, am 28. Juni, müssen die Fahrzeuge dort abgegeben werden. Das Schiff ist auf dem Weg nach Cartagena und wird den Hafen am 2. Juli mit unserem Bus an Bord mit Kurs auf Antwerpen wieder verlassen. Bis dahin und für die obligatorische Drogenkontrolle müssen wir noch in Cartagena bleiben.
Wenn der Bus den Hafen verlassen hat, beginnt der letzte, noch einmal ganz neue und andere Abschnitt unserer Reise. Mit einem Mietwagen werden wir uns auf den Weg in Richtung Bogota machen. 1000 Kilometer, die uns durch noch einmal neue Regionen führen werden, auf denen wir noch ein wenig mehr von diesem wunderbaren Land erkunden können. Bis wir schließlich, am 21. Juli, nach ein paar letzten Tagen in der Hauptstadt, in ein Flugzeug von Bogota nach Frankfurt steigen werden.
Erst dann müssen wir wirklich Abschied von unserer Reise nehmen, erst dann ist sie wirklich zu Ende.
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