Nur noch wenige Tage, dann werden wir Argentinien verlassen. Es macht mich ein wenig wehmütig zu wissen, dass es nur noch knapp 200 km sind, bis wir die Grenze zu Bolivien erreichen. Und ich habe das Gefühl, in den letzten Tagen, auf den letzten Kilometern zeigt sich uns Argentinien nochmals in seiner ganzen Vielfalt, zieht uns mit uns bisher unbekannten Facetten und ganz neuen Eindrücken immer wieder und nochmals neu in seinen Bann, lässt uns immer wieder von neuem staunen und bewundern.
Fast wird mir ein wenig schwindelig, wenn ich an die vielen, intensiven Erlebnisse der vergangenen Tage zurückdenke. An Tage zwischen Wüste und Weinanbaugebiet, in Canyons, Großstadt und Inkaruinen, Regenwald und Farbenrausch hoch über die Wolken.
Das Gekrächze der Felsensittiche lässt uns aufhorchen, wir erkennen es sofort wieder. Lange haben wir es nicht mehr gehört, nun sind sie wieder hier, nisten in den großen alten Kakteen, zwischen denen wir die Nacht verbracht haben und wecken uns laut krächzend, als sie in der Morgendämmerung ihre Kreise ziehen, rufen wunderbare Erinnerungen an die Felsensittichkolonie der Atlantikküste hervor. Wir wollen sowieso früh aufstehen, noch vor der großen Hitze die Ruinen einer Siedlung der indigenen Quilmes besuchen. Fasziniert streifen wir zwischen riesigen Kandelaberkakteen und den sich in Stufen die Berge hinaufziehenden alten Steinmauern umher und versuchen uns vorzustellen, wie vor über 500 Jahren die Quilmes und später die Inka hier gelebt, gearbeitet, ihre Zeremonien vollzogen, Feste gefeiert und schließlich erfolglos gegen die spanischen Eroberer gekämpft haben. Erst als die Sonne schon hoch steht kehren wir zum Eingang zurück und begegnen dort wunderbar weichfelligen und großäugigen neuen Bekannten: unsere ersten Lamas, zum streicheln nah.
Das Städtchen Cafayate, eingebettet zwischen Weinbergen, mit seinen vielen Bodegas und Restaurants ist ganz bestimmt ein Ort mit besonderem Charme, die große Hitze jedoch macht es uns schwer, uns darauf einzulassen und vertreibt uns rasch wieder aus den engen Straßen. Nur schnell ein paar Lebensmittel und etwas zum Mittagessen besorgen wollen wir – doch so einfach ist das hier im Norden Argentiniens nicht mehr. Also schauen wir in zwei, drei kleine Verdulerias bis wir ein wenig Obst und Gemüse beisammen haben, drehen eine Runde durch den größten Supermarkt des Ortes, verlassen ihn mit einer Flasche Milch wieder und warten schließlich schwitzend und geduldig im Vorraum des Empanadabäckers, bis die Teigtaschen knusprig heiß und duftend aus dem Ofen kommen. Ein paar Trauben zum Nachtisch, dann verlassen wir das Städtchen und finden uns nur wenig später in einer grünen Oase, im Garten eines Ziegenhofs wieder. Statt einer Wein-, machen wir eine Käseverkostung. Im Schatten großer Bäume, umgeben von Weinbergen, steht vor uns auf dem Tisch ein Brett mit verschiedenen Käsesorten, ein Glas Wein und Wasser. Es gibt eine Katze zum Streicheln, Hühner zum Freuen und ein Klettergerüst zum Austoben. Es ist wunderbar erholsam und friedlich hier und auch als der Käse schon längst aufgegessen ist, bleiben wir noch lange sitzen.
Gegen Abend schließlich verlassen wir unsere Ziegenhofoase. Antonio erwartet uns. Bei ihm wollen wir einen langgehegten Wunsch von Mattis erfüllen. Wir biegen ab von der Hauptstraße und erreichen über eine staubige Piste eine kleine Ansiedlung von Häusern und einfachen Tierpferchen, scheinbar menschenleer in der brütenden Hitze, zerzaust und staubig vom heftigen Wind. Doch dann öffnet sich eine Tür, Antonios Schwester Delia bittet uns herein und aufatmend betreten wir den großen, kühlen Raum. Delia begrüßt uns herzlich, stellt kühles Wasser, frisch gepflückte Feigen und Trauben auf den Tisch. Dankbar lassen wir uns nieder und erblicken staunend eine große Krippenlandschaft. Gleich mehrere heilige Familien entdecken wir, umgeben von unzählige Kühen und Schafen, dazwischen landestypische Tiere wie Adler, Guanako, Kaiman und Nandu, selbst ein Känguru und ein Löwe haben sich hierher verirrt. Jedes Jahr baut Delia liebevoll in vielen Stunden diese kleine Welt auf – und an Weihnachten kommen alle elf Geschwister mit ihren Kindern hier zusammen um gemeinsam zu feiern.
Ob Delia dann das Festmahl zubereitet wissen wir nicht. Heute jedoch dürfen wir uns von ihr bekochen lassen. Trotz anfänglicher Skepsis sind alle schnell überzeugt von den hauchdünnen, knusprigen Auberginenschnitzeln (und auch der fleischhaltigen Variante). Immer wieder bringt Delia frisch gefüllte Platten aus der Küche, reicht Schüsseln mit Tomaten- und Zwiebelsalat. Als alle schon sehr satt sind, stellt sie zu unserer Überraschung noch einen Topf auf den Tisch. Gemüsesuppe. Und wir lernen: die Suppe wird hier nach dem Hauptgang serviert. Und vor dem Nachtisch. Da gibt es dann noch eine riesige, süßsaftige Wassermelone.
Welch ein Genuss, so köstlich bekocht und versorgt zu werden!
Die Nacht verbringen wir im Hof von Antonios Finca gleich nebenan. Antonio lebt hier mit seiner Frau Anna und den beiden kleinen Töchtern und bewirtschaftet die elterliche Farm. Eine Horde Ferkel flitzt über den Hof, eine Handvoll Kühe grast auf der Wiese nebenan, ein paar Puten tummeln sich im Gehege und auf der Weide entdecken wir eine Gruppe Pferde. Sie sind der Grund für unseren Besuch. Mit Antonio können wir einen Ausritt machen, er bietet Reitausflüge für Touristen an, hinein in die Berge, gibt uns die Möglichkeit, ein ganz kleines bisschen Gauchogefühl zu erleben….
Um 8 Uhr am nächsten Morgen haben er und sein ungefähr elfjähriger Neffe Pedro die Pferde schon von der Weide geholt und aufgesattelt. Nach ein paar wenigen Hinweisen dürfen wir aufsitzen und schon sind wir unterwegs. Ein bisschen Aufregung ist dabei, ist es doch lange her, dass ich auf einem Pferd gesessen bin und keiner der Jungs ist bisher geritten ohne geführt zu werden. Doch schnell merken wir, dass die Pferde ihren Weg kennen, ruhig und zuverlässig sind. Pedro reitet souverän voraus, ein Hofhund begleitet uns und wir können es einfach genießen, durch die wunderbare Landschaft getragen zu werden, hindurch zwischen roten Felsen und hinein in einen Canyon. Die letzten Meter gehen wir zu Fuß, hier wäre es selbst für die Pferde zu eng, und genießen staunend die absolute Ruhe am Ende des Canyons, die intensiv rote Farbe und die phantastischen Felsformationen. Mattis ist glücklich, dass er nun endlich reiten konnte, ganz alleine, und ich freue mich, dass Jan und ich, obwohl wir früher beide geritten sind, nun zum ersten Mal gemeinsam auf Pferden unterwegs sind.
Unser nächstes Ziel ist Salta. Salta la Linda, Salta, die Schöne. Eine Großstadt, geprägt von spanischer Architektur, prunkvollen Sakralbauten, einem lebhaften Stadtzentrum mit sympathischem, etwas in die Jahre gekommenem kolonialen Charme. Ich genieße es sehr, mitten darin zu sein, die vielen Menschen zu sehen, die Lebendigkeit zu spüren, im Cafe zu sitzen, Bilder und Eindrücke zu sammeln. Die Jungs genießen, dass wir wieder für ein paar Tage ein Häuschen gemietet haben, mit mehreren Zimmern, einer großen Terrasse und Türen, die man auch mal zumachen kann.
Besonders beeindruckt uns der Besuch des Museo de Arqueologica de Alta Montana. Hier wird die Geschichte dreier Inkakinder erzählt, die vor über 500 Jahren in einer langen und aufwändigen Zeremonie, die die Verbundenheit mit Göttern und Ahnen stärken sollte, geopfert wurden. Die Kinder aus verschiedenen Regionen des Inkareiches unternahmen eine lange Reise nach Cusco im heutigen Peru, dem spirituellen und politischen Zentrum der Inka, wurden dort rituell miteinander vermählt und kehrten in wochen- oder monatelangen Wanderungen zurück in ihre Heimatdörfer. Dort wurden sie mit großen Ehren und Freudenfesten empfangen, bevor sie ihre letzte, lange und anstrengende Reise auf den über 6000m hohen Gipfel des für die Inka heiligen Vulkan Llullaillaco antraten. Betäubt durch Coca und Maisbier und ausgestattet mit vielen symbolträchtigen Beigaben, wurden die Kinder dort oben schließlich begraben. Drei dieser Kinderopfer wurden im Jahr 1999 gefunden. Die trockene Kälte des Vulkangipfels hat sie mumifiziert. Ihre Körper, Haare und Kleidung, die Grabbeigaben, kleine Metalltiere und winzige rituelle Figuren, geschmückt mit bunten Federn und gehüllt in farbige Stoffe – alles ist vollständig erhalten. Es ist faszinierend und ein Moment großer Ehrfurcht, die Mumie eines dieser Kinder zu sehen, seine Geschichte zu hören und zu würdigen. Und zugleich haben wir das Gefühl, der eigentlich richtige Platz für sie wäre nahe den Göttern, in der Einsamkeit des heiligen Berges.
Nach fünf Tagen Erholung und Erledigungen in Salta fahren wir weiter Richtung Norden. Die Wüste mit den hohen Kandelaberkakteen weicht einer fruchtbaren, wilden Landschaft. Hier ist wieder viel. Viel, wie wir es aus dem Regenwald um Iguazu kennen, ganz zu Beginn unserer Zeit in Argentinien. Die schmale Straße windet sich durch wilden Wald, zwischen riesigen Bäumen hindurch, behangen und bewachsen von Lianen und langblättrigen Hängepflanzen. Vögel zwitschern, von allen Zweigen tropft es, tiefhängende Wolken verfangen sich in den Bäumen und viele kleine Bäche fließen über die Straße. Hier scheint selbst die Luft fruchtbar zu sein – die Stromleitungen in den Orten am Wegesrand sind dicht an dicht von kleinen Kaktuspflanzen bewachsen.
Salta ist die letzte große Stadt auf unserem Weg. Nun werden die Orte immer kleiner, die Häuser einfacher und niedriger, sind oft aus Lehmziegeln gebaut, der typische kuppelförmige Lehmofen im Hinterhof. Lamas stehen am Straßenrand, überall wird Coca/Bica angeboten, die im restlichen Land verbotene Mischung aus Cocablättern und dem ihre belebende Wirkung verstärkenden Bicarbonat. Die Auswahl an Obst wird bunter und reicher, wir schwelgen in Mangos, wie wir sie noch nie gegessen haben, Melonen aller Art, Papaya, Trauben, Pfirsichen, Kaktusfrüchten und Ananas. Trotz der schroffen, über 4000m hohen Berge, die uns umgeben und der breiten ausgetrockneten Flussbetten, an denen wir entlang fahren, sind die Täler von großer Fruchtbarkeit. Wo immer ein Wasserlauf zu finden ist, leuchtet ein sattgrünes Tal zwischen den Felsen, sind kleine Felder angelegt, die oft von Hand und mit Hilfe von Pferden bewirtschaftet werden, wachsen Wein, Mais, Tabak, Blattgemüse und Obst. In den kleinen Orten finden wir Kunsthandwerkermärkte, Marktstände voller leuchtend bunter Stoffe, Hüte und Taschen, Cocabonbons, Gewürze, Flöten, kleine Trommeln, gehäkelte Minilamas und alles, was Besucher sonst vielleicht noch gerne als Andenken mit nach Hause nehmen. Auf einem der Märkte werden wir zufällig Zuschauer einer Tanzvorführung und als am weitesten gereiste Gäste vom Bürgermeister persönlich gegrüßt. Wir probieren Tamales, gedämpfte oder gebratene Päckchen aus Maisblättern mit unterschiedlicher Füllung und köstliche, direkt auf dem Grill zubereitete Tortillas rellenas, gefüllte knusprig heiße Fladenbrote. Und wir überqueren zum ersten Mal einen Pass über 4000m Höhe. Der Weg und Ausflug zur Salina grande, einer großen Salzpfanne jenseits des Gebirgszugs ist Höhentraining für die Hochebenen Boliviens und ein faszinierend blendendweißes Erlebnis zugleich.
Während ich mich an all dies erinnere, entsteht vor meinem inneren Auge ein Bild mit den Umrissen Argentiniens, ein großes Mosaik in den unterschiedlichsten Farben, ein Gesamtkunstwerk, bunt, lebhaft, voller Emotionen und überraschender Details. Unsere vielen Erlebnisse und Begegnungen der vergangenen Wochen fügen sich zu diesem Mosaik, zu unserem ganz individuellen Eindruck von Argentinien, verleihen diesem unfassbar großen Land ein Gesicht, machen es uns ein Stück weit vertraut. Zu jedem Ort unserer Reise haben wir ein Bild, eine besondere Erinnerung, vielleicht einen Geschmack, Geruch oder ein Gefühl. Nur ein kleiner, aber unser ganz persönlicher Ausschnitt aus der unfassbaren Fülle dieses Landes. Es hat uns Staunen gelehrt, uns immer wieder überrascht, herausgefordert und und unendlich bereichert. Wir haben dieses Land lieben gelernt. Die Herzlichkeit und Großzügigkeit, der unkomplizierte Pragmatismus der Argentinierinnen und Argentinier und die unendliche Schönheit des Landes haben es uns so leicht gemacht.
Angesichts meines inneren farbenreichen Bildes passt es so gut, dass wir hier, in der Quebrada Humahuaca unsere letzten Tage in Argentinien verbringen. Die Quebrada ist eine gewaltige, viele Kilometer lange Schlucht, ein fruchtbares Tal, eingebettet zwischen Felsen und Bergen, die in den verschiedensten Farben leuchten. Auch Humahuaca selbst, der zentrale Ort in dem wir ein paar Tage verbringen, ist bunt, scheint die Farben der Umgebung aufzugreifen und zu spiegeln. Viele der kleinen Häuser sind mit großen Wandbildern bemalt, Türen und Fensterrahmen leuchten in fröhlichen Farben. Die Marktstände, die sich rund um den zentralen Platz bei Kathedrale und Rathaus gruppieren sind ein Feuerwerk der Farben. Hier spielt die Musik, ertönen Lautsprecherdurchsagen, drängen sich Besucher und Einheimische, laut, fröhlich und lebhaft. Bis 12 Uhr mittags. Dann, ganz plötzlich, verstummen alle Gespräche, hört die Musik auf zu spielen, hört man nur noch ein mahnendes „psst, psst!“. Alle Gesichter wenden sich dem Rathausturm zu, Handys werden gezückt, die Videoaufzeichnung aktiviert. Und hingebungsvoll und andächtig schauen die Menschen auf zu San Francisco, einer lebensgroßen Figur des Heiligen, die jeden Tag mittags um 12 Uhr hinter den Türen des Rathausturms erscheint und die Menge mit bedächtigen Handbewegungen segnet. Es ist ein magischer Moment, ein kurzes gemeinsames Innehalten inmitten des Trubels. Nach zwei Minuten schließen sich die Türen wieder, die Musik beginnt erneut zu spielen, Frauen und Kinder in traditionellen Trachten beginnen zu tanzen, Musikzüge ziehen in Vorbereitung auf den Karneval durch die Straßen und das Leben geht weiter.
Die Faszination und unwirkliche Schönheit der grünen, gelben, violetten, roten und blauen Felsen der Quebrada zu beschreiben fällt mir schwer. Am eindrucksvollsten und im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubendsten ist das Farbwunder in Hornocal. Nach vielen steilen Serpentinen stehen wir in 4300 m Höhe atemlos und sprachlos vor einem riesigen Felsmassiv in nahezu 20 unterschiedlichen Farbtönen. Wie ein phantasievolles Webmuster ziehen sich die Farben in Zickzacklinien über den Fels, verändern sich mit Licht und Schatten, leuchten golden, dann wieder in dunklem Rot und zarten Violetttönen, wirken wie gerade erst mit einem übermenschlich großen Pinsel aufgetragen. Es sind Berge von solch majestätischer Schönheit, wie wir sie noch nie gesehen haben. Lange sitzen wir einfach nur da, schauen und staunen. Und ich spüre wieder den großen Wunsch in mir, dass dieses Wunder der Natur, dieses Geschenk an die Menschheit, für immer geschützt und erhalten bleiben möge.
Vielleicht hat es auch mit der großen Höhe zu tun, dass mir beim Beschreiben und Erinnern der vergangenen Wochen ein wenig schwindelig wird. Es ist 7 Uhr morgens als ich diese Sätze schreibe, die dünne Luft um unseren Übernachtungsplatz auf 3900m Höhe beschleunigt Atmung und Herzschlag, hat mich nur unruhig schlafen lassen. Doch das ist vergessen, als ich vom Computer auf und aus dem Fenster schaue. Dort beginnen gerade die Bergkuppen jenseits des Tales in der Morgensonne zu leuchten, während der ruhig und still darüber stehende Vollmond langsam verblasst und ich bin einfach nur dankbar für jeden Augenblick, den wir hier erleben dürfen.
Übermorgen werden wir in Bolivien sein. Und nach dem Abschied von Argentinien bin ich gespannt und voller Vorfreude darauf, welche Erfahrungen, Begegnungen und Erlebnisse wir dort zu einem neuen Mosaik werden zusammenfügen können.
Schreibe einen Kommentar