Es bereitet mir eine prickelnde Freude, immer wieder auf die Landkarte zu schauen und zu sehen, wo wir sind: da ist die Straße, da ist der Parkplatz auf dem wir stehen – und da ist das Wasser. Wer von hier aus weiter will, muss das Schiff nehmen. Wir stehen am Beagelkanal, nahe der südlichsten Stadt der Erde, am Ende der bewohnten Welt. Nur noch 3600 km trennen uns von der Antarktis. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, hier zu sein, diesen Ort zu sehen, zu spüren, zu erleben.
Vier Grenzen, die Magellanstraße und ein Stück Chile haben wir durch- und überquert. Wir verlassen Argentinien früh am Morgen und reisen entgegen vieler Berichte anderer Reisender unkompliziert und trotz Fahrzeugkontrolle auf verbotene Lebensmittel schon nach knapp einer Stunde in Chile ein. Gut 250 km später verlassen wir das Land jedoch vorerst wieder und sind zurück in Argentinien.
Noch in Chile überqueren wir auf einer Fähre die Magellanstraße. 503 Jahre ist es her, dass die Verbindung zwischen atlantischem und pazifischem Ozean entdeckt wurde. Wir entdecken vom Schiff aus einen der kleinsten Delphine der Welt: einen wunderschönen, schwarz-weißen Commersondelphin, der die Fähre mit seinen Luftsprüngen begleitet.
Und dann sind wir tatsächlich auf der Ruta del Fin del Mundo unterwegs, auf der Straße ans Ende der Welt.
Eine scheinbar endlose Ebene liegt vor uns, der Wind fegt heftig über die niedrigen Büsche, den kargen Boden und die zerzausten Grasbüschel. Alles ist von feinem Staub überzogen, die Farben wirken wie ausgebleicht, Sträucher, Büsche, Erdboden, Gräser, die ausgetrockneten Seen – alles ist in bleiches Grün, fades Gelb, Beige und Sandtöne getaucht. Vereinzelt leuchtet ein Sonnengelb oder ein Dunkelrot an den dornigen Sträuchern – zaghafte Zeichen des beginnenden Frühlings. Die einzigen Lebewesen, denen wir hier begegnen, sind Guanakos, die in großen Gruppen, mit herablassend-gleichgültigem Blick am Straßenrand stehen und genüßlich malmend ihre Unterkiefer hin- und herbewegen und die zahlreichen Schafe, die sich mit ihren staubigen dicken Winterfellen nahtlos in die Farben ihrer Umgebung einfügen. Der Frühling beginnt hier erst zögerlich – vor 8 Wochen sahen wir die Lämmchen schon in Uruguay, hier sind sie gerade erst zur Welt gekommen und drängen sich wärmesuchend an ihre Mütter oder suchen in den raren Bodensenken Schutz. Der unermüdliche und unerbittlich kalte Südwestwind sorgt dafür, dass jede noch so kleine Pfütze, jede Wasserstelle von einer Gänsehaut überzogen ist. Menschen sehen wir keine, die vereinzelten Estancias liegen weit von der Straße entfernt.
Die unendliche Weite hat eine seltsam hypnotische Wirkung und so kommt es uns fast unwirklich vor, als nach langen Stunden weit entfernt am Horizont Berge auftauchen, hohe Berge, schneebedeckt. Schlagartig sind wir wieder hellwach, schauen und staunen, wie sich die Natur um uns herum nun mit jedem Kilometer verändert. Neben der Straße ziehen Flüsse in großen Schleifen durch weite Täler, Bäume stehen am Straßenrand, wild, windgebeutelt, zerzaust, teilweise noch ohne die ersten Blätter, dafür moosbewachsen und behangen von langen, im Wind wehenden Bartflechten. So viele Tage haben wir keine Bäume gesehen und entsprechend groß und ausgelassen ist unsere Wiedersehensfreude! Die einzelnen Bäume werden zu Wäldern, die sich über die Hügel ziehen und dahinter, am Horizont, weisen uns die majestätisch alles überragenden schneebedeckten Gipfel, die südlichsten Ausläufer der Anden, den Weg.
Wir sind da – in Feuerland, inmitten einer Natur von unglaublicher Kraft und Schönheit.
Unser erstes Ziel ist Tolhuin, eine kleine Stadt ganz am Ende des langgestreckten Lago Fagnano. Die lange Anreise war anstrengend, wir sind große Strecken gefahren und konnten auch in den Pausen und abends den Bus nur kurz verlassen, zu heftig und zu kalt war der Wind. Es war sehr viel Zeit auf sehr engem Raum und so beschließen wir, für drei Tage aus dem Bus in ein kleines Häuschen, eine Cabana, zu ziehen und die Nähe und Intensität des Beisammenseins gegen mehr Freiraum, Erholung und Entspannung zu tauschen. Nach einer Nacht auf einem Campingplatz im Windschutz herrlich hoher Bäume finden wir Zuflucht in den Cabanas Laguna Negra. Die Ruhe und Schönheit zwischen Laguna Negra und Lago Fagnano, das gemütliche kleine Häuschen und der Kontakt mit Marcelo und Cynthia, den überaus herzlichen Eigentümern, sind Balsam für uns alle. Wir atmen in der klaren Bergluft tief durch, ruhen uns aus, schlafen gut und lange, machen ausgedehnte Spaziergänge zwischen Lagune und See, entspannen uns im großen hölzernen hot pot, sitzen abends vorm Kaminfeuer, lesen, reden oder schauen einfach aus dem Fenster, genießen den Blick auf Berge und See. Hannes versucht wieder sein Anglerglück und füttert einen unerschrockenen Falken, Luis genießt es, das Häuschen immer mal wieder ganz für sich alleine zu haben, Mattis freundet sich mit Lola, der unternehmungslustigen Haushündin an und selbst Joschi verliert nach und nach seine Scheu und tollt spielend mit ihr am Seeufer herum. Uns wird wieder bewusst, dass das Reiseleben Kraft kostet und manchmal merken wir wohl gar nicht mehr, wie anstrengend es auch ist, wie angestrengt wir sind. Umso wichtiger und kostbarer sind solche Tage der Erholung und des größeren Freiraums für uns alle.
Nur 100 km sind es nun noch zur südlichsten Stadt der Welt. Ushuaia. Ein kleiner Ort, geschmiegt in eine schützende Bucht mit vielen kleinen bunten Häuschen, die sich zwischen dem Hafen und den hoch aufragenden Bergen an den steilen, engen Straßen aneinanderreihen. Ushuaia ist ein Sehnsuchtsort, hier treffen Globetrotter, Langzeitreisende, Overlander, Aussteiger, Gestrandete, Kreuzfahrt- und Antarktistouristen aufeinander und beleben die Straßen, füllen die vielen kleinen Läden, Cafes und Restaurants. Auf dem großen Parkplatz am Hafen sammeln sich die Reisemobile. Immer wieder begegnen wir auf unserer Tour den gleichen Reisenden, mit manchen kommen wir ins Gespräch, bleiben in Kontakt und so treffen wir hier für einen Abend Anne und Rob mit ihren drei Jungs wieder zu einem fröhlichen Austausch und Spiel auf englischdeutschholländischspanisch.
Und dann stehen wir also am Ende der Straße hoch über dem Beaglekanal, schauen hinunter auf das glitzernde Wasser mit den kleinen Inselchen, sehen in der Ferne die Bucht von Ushuaia und unter uns vorbei ziehen die Kreuzfahrtschiffe auf ihrem Weg in die Antarktis.
Die Kraft der Natur, der wir hier begegnen, berührt mich tief. Feuerland ist nicht einladend oder lieblich, nicht gefällig oder bequem. Feuerland ist wie es ist. Eine Naturgewalt. Kompromisslos. Wild und ungebärdig, rau und unberechenbar. Hier zu sein bedeutet, sich der Übermacht der Natur fraglos zu fügen und sich zu jeder Zeit der Überlegenheit der Naturgewalten bewusst zu sein. Feuerland macht demütig. Und es erinnert vehement daran, dass es für uns nur ein Leben mit der Natur und niemals gegen sie geben kann. Hier in der Natur zu sein erfordert Präsenz, Stärke und Wachheit. An einem einzigen Tag erleben wir alle vier Jahreszeiten, unsere Pläne sind nichts mehr als Ideen, die wir täglich und stündlich anpassen müssen. Und zugleich werden wir, wenn wir das akzeptieren, ganz unmittelbar mit überwältigend schöner, wilder Natur belohnt. Ich liebe dieses Wilde, diese Radikalität, die so eindeutig, klar und voller Kraft ist. Es ist unglaublich beglückend, als kleiner Mensch mitten darin zu sein in diesem ewig wechselnden Schauspiel der Natur.
Für uns alle ist es eine Wohltat, hier endlich wieder Wanderungen unternehmen zu können, draussen zu sein, uns zu bewegen. Wir steigen auf den Glaciar Martial, wandern hoch über dem Beaglekanal entlang zu einer verlassenen Estancia und mitten hinein in die Berge zur schimmernden Laguna Esmeralda. Joschi ist erholt genug, um uns zumindest auf kürzeren Strecken zu begleiten und entgegen meiner Befürchtung finden wir auch ausserhalb des Nationalparks, der für Hunde verboten ist, herrliche Wanderwege.
Die Bäume an der Küste sind gebeugt vom beständigen Wind und ragen nahezu waagrecht über unseren Weg, die immergrünen Äste wie glatt gebügelt. Löwenzahn und Gänseblümchen strecken ihre Köpfe nur ganz knapp über den Erdboden heraus. 800 m über dem Meeresspiegel stapfen wir durch knietiefen Schnee, bei strahlender Sonne, bei Wind, der uns fast in die Knie zwingt, bei Nieselregen. Alles innerhalb weniger Stunden. Die Wolken wechseln ohne Pause Form und Farbe, feinster Sprühregen fällt und zeitgleich leuchtet die Sonne gleißend über der Bucht. Wolkenverhangene Bergspitzen stehen neben Felsen, die steil in tiefblauen Himmel aufragen, der Wind weht unablässig, mal stürmisch, mal sanfter, dreht und wendet sich. Die Abendsonne schickt ihre Strahlen durch schmale Wolkenlücken, am Horizont verschmelzen die Wolken mit den schneebedeckten Gipfeln zu einem dichten Gewebe aus grau, blau und weiß, alles scheint sich ineinander aufzulösen und wenn wir Glück haben, spannt sich ganz plötzlich ein leuchtender Regenbogen über die Bucht von Ushuaia.
Bevor wir uns wieder auf den Weg Richtung Norden machen, verbringen wir noch eine letzte Nacht am Ufer des Beaglekanals. Wir parken den Bus auf einer leuchtend grünen, saftigen Wiese zwischen hohen alten Bäumen, die wir nur mit ein paar halbwilden Pferden teilen, der vorbeifließende Gebirgsbach lädt Mattis zu stundenlangem Spielen ein. Es gibt hier nur sehr wenige offizielle Campingplätze, die Auswahl an schönen Orten zum Einfach-so-Übernachten hingegen ist unbegrenzt. Und weil uns nach den vielen Wanderungen dennoch der Sinn nach einer Dusche steht, weihen wir ausgerechnet hier, an einem der rausten und windigsten Orte unserer Reise, unsere outdoor-Dusche ein.
Feuerland hautnah und herrlich erfrischend!
Schreibe einen Kommentar