Aufregung, Anspannung, Erschöpfung, Unruhe – all das haben wir reichlich erlebt in den letzten 11 Monaten. Aber Hektik? Nein, Hektik gab es nicht. Bis heute. Jetzt, zwei Tage vor Abflug überfällt sie uns. Es ist Freitagnachmittag, Sonntagabend steigen wir ins Flugzeug nach Frankfurt. Und plötzlich lesen wir, wir brauchen für Joschi, entgegen unseren bisherigen Informationen, nicht nur seinen Pass, sondern auch noch ein Zertifikat der Tierschutzbehörde, damit er ausreisen darf. Wir sind unsicher. Welche Information stimmt und wer kann uns verlässlich Auskunft geben? Was passiert, wenn wir das Zertifikat am Sonntag nicht haben?
Hektisch beginnen wir WhatsApp Kommunikation mit Freunden, deren Hund schon ausgereist ist, mit Tierärzten, die sich damit auskennen, versuchen – vergebens – auch die Lufthansa und das Veterinäramt zu erreichen. Die erste Tierarztpraxis bestätigt unsere Befürchtung: ja, wir brauchen das Zertifikat und sie könnten es auch ausstellen – normalerweise. Für uns jedoch leider nicht, weil morgen, am Samstag, Unabhängigkeitstag ist und sie geschlossen haben. Wir sollen uns an MascoTravel, den Tierarzt direkt im Flughafen wenden. Also schicken wir auch dorthin eine Nachricht (in ganz Südamerika funktioniert alles über WhatsApp) und bekommen umgehend und sehr freundlich eine lange Liste an Dokumenten, die benötigt werden, um das Zertifikat noch heute auszustellen. Allerdings: sie schließen in eineinhalb Stunden und müssen vorher noch Hundebesitzer und Hund gesehen haben. Jan und Luis schnappen sich also Joschi und ein Taxi und fahren los. Die Dokumente schickt Jan von unterwegs. Drei Stunden später kommen sie erschöpft, aber mit Zertifikat zurück. Ob wir es wirklich brauchen, werden wir ganz sicher erst beim Check-in am Sonntagabend wissen.
Unsere bisherige Zeit in Bogotá war, ganz anders als der hektische Freitag, sehr ruhig – Jan und mich hat eine heftige Erkältung ausgebremst und so haben wir weniger von der Stadt gesehen, als erhofft und geplant. Stattdessen haben wir uns während gemütlicher Film-Lese-Schlaf-Koch-Schreib-und Lern-Tage und mit vielen von Mattis in unendlichen Varianten gemixten Smoothies in Ruhe erholt.
Unser Haus auf Zeit, die Casa Azul, liegt im Norden der Stadt, in Usaquén, einem ruhigen, wohlhabenden Viertel mit einer Mischung aus großen Wohnkomplexen und kleinen Einfamilienhäusern, alle in Laufweite zur großen Straße mit den vielen Läden und Restaurants. Sehr sicher sei es hier, bestätigt uns der junge Mann, der uns die Schlüssel übergibt. Und Sicherheit scheint tatsächlich ein Thema zu sein. An vielen und auch an unserer Straßenecke sitzt Tag und Nacht ein Wachmann in einer kleinen Bude und hat per Monitor die ganze Straße im Blick. Bei näherem Hinschauen entdecken wir die vielen Überwachungskameras an den Straßenlaternen, in jedem Wohnblock sitzt ein Security Mitarbeiter am Eingang und auf vielen der die Häuser umgebenden Mauern liegt Stacheldraht, manchmal noch verstärkt durch einen Elektrozaun. Wir können nicht einschätzen, wie gefährlich es hier ohne all diese Vorkehrungen wäre – auf uns macht das Viertel einen freundlichen, ruhigen Eindruck und wir sind ohne Sorge unterwegs.
Trotz Erkältung schauen wir uns ein wenig um in Bogotá – am ersten Tag noch selbst im Mietwagen, um eine Hundebox für Joschi für den Rückflug zu kaufen, dann in Taxis, die uns in etwas mehr als einer halben Stunde zur zentralen Plaza Bolívar ins Herz der Stadt bringen. Auf dem Weg dorthin staunen wir über die vielen, vielen Radfahrer, die sich in großer Geschwindigkeit durch die Stadt bewegen. Bogotá ist Fahrradstadt mit einem der am besten ausgebauten Radwegnetze weltweit. Über 500 km Radwege im Stadtgebiet gibt es, parallel zu den großen Straßen, farblich markiert und gesichert durch kleine Trennwände. Jeden Sonntag kommen nochmals ungefähr 120 Kilometer dazu, dann werden, und das schon seit Mitte der 1970er Jahre, einige der Hauptverkehrsstraßen für Autos gesperrt und sind als „Ciclovía“ frei für unzählige Radfahrer und Jogger.
An einem der Sonntage ist die „Séptima“, eine der großen Hauptverkehrsadern durchs Zentrum unser Ziel. An allen Sonn- und Feiertagen ist sie für Autos gesperrt und verwandelt sich in eine kilometerlange Vergnügungszone voller Menschen, Musik, Kunst, Verkaufsständen und Verköstigung. Wir sind auf der Suche nach dem Meerschweinchenrennen, das hier manchmal stattfinden soll und das Mattis so gerne sehen würde. Aber leider vergebens, die Meerschweinchen rennen heute nicht um die Wette – vielleicht, weil heute Abend das große Finale der Copa América ausgetragen wird und alles im Zeichen des Spiels Kolumbien gegen Argentinien steht. Egal, wohin wir schauen, überall sehen wir die kolumbianischen Farben. Hüte, Flaggen, Tröten, Schals, Trikots und Hundepullover, alles leuchtet in blau-rot-gelb. Und auch wir bringen unserem Fußballfan Hannes die entsprechende Ausrüstung fürs gemeinsame Fußballgucken mit…
All unsere Sinne sind völlig absorbiert von den vielen Eindrücken und ich genieße es sehr, einfach mittendrin zu sein in diesem überschäumenden, lauten, lebhaften, lebenslustigen, gut gelaunten Durcheinander.
Es gibt unzählige Museen in Bogotá – drei davon haben wir uns ausgesucht: das Museo del Oro, das Maloka, ein interaktives Naturwissenschaftsmuseum, und das Botero Museum.
Das Goldmuseum ist schon allein aufgrund der unfassbaren und weltweit einzigartigen Menge von 35 000 präkolonialen Goldfundstücken überwältigend. Die aus reinem Gold gefertigten Gegenstände der verschiedenen indigenen Stämme Kolumbiens sind in ihrem Detailreichtum und ihrer unglaublich feinen, kunstvollen Verarbeitung faszinierend, geheimnisvoll und einfach wunderschön.
Das Maloka Museum ist ein hands-on Museum, eingerichtet für Kinder und Jugendliche. Hier finden sich unzählige physikalische Experimente zum Ausprobieren, Messstationen für Wurfkraft, Balancefähigkeit und Schnelligkeit, interaktive Informationen zu Klimawandel, Umweltschutz und Emotionen, Starkstromexperimente, Mikroskope, Einblicke in den menschlichen Körper und vieles, vieles mehr. Viel zu tun und auszuprobieren und ein paar spannende und kurzweilige Stunden für uns alle.
Im Botero Museum, einem schönen, luftigen Bau rund um einen blühenden Innenhof finden wir manche der Plastiken, die wir schon aus Medellín kennen und auch die liegende Frau mit Frucht vom Bamberger Heumarkt, in kleinerem Format wieder, dazu zahlreiche Gemälde von ihm und Künstlern wie Picasso, Miro und Matisse. Jedes der Museen der Stadt ist zu sehr geringem oder auch ganz ohne Eintritt zugänglich und alle Museen sind gut besucht.
Zum Abschluss verschaffen wir uns noch einen ganz weiten Überblick über Bogotá. In Sekundenschnelle bringt uns der Aufzug in das 48. Stockwerk des Colpatria, des zweithöchsten Turms der Stadt. Aus 196m blicken wir auf Straßengewimmel und Häusermeer weit bis zum Horizont, bis zu den Bergen, an deren Hänge die letzten Ausläufer der riesigen Stadt im Dunst verschwinden.
Und nun ist es Samstagabend, unser letzter Abend in Bogotá. Jetzt geht unsere Reise wirklich zu Ende.
Es fällt mir schwer, zu begreifen, dass wir in zwei Tagen schon wieder zuhause sein werden, es ist seltsam, dass wir uns mit Freunden für nächste Woche verabreden können. Es fühlt sich noch so irreal und weit entfernt an. Und gleichzeitig weiß ich, dass es gut ist, jetzt nach Hause zurückzukehren, dass es an der Zeit ist, herauszufinden, wie unser Leben zuhause weitergehen soll.
Wenn ich auf die große Zeitspanne der vergangenen elf Monate zurückblicke, ist es gar nicht so leicht zu sehen, wieviel wir erlebt haben. Wenn wir uns aber in die Vergangenheit hineinzoomen, uns einen Tag, ein Ereignis, einen Stellplatz, eine Begegnung herauspicken, wenn sich einer von uns an etwas erinnert und mit ein paar Worten diese Erinnerung in uns allen wieder wachruft und sich dadurch ein ganzes Kaleidoskop an Bildern in uns auftut, dann erkenne ich wieder die unendliche Fülle und Vielfalt unserer Erlebnisse.
Und doch ist nichts von all dem dabei, was auch hätte passieren können und was wir (und vielleicht auch ihr) leise befürchtet haben.
Wir wurden nicht ausgeraubt, nicht überfallen oder betrogen, wir begegneten keinen korrupten Polizisten, hatten keinen Unfall, keine Tropenkrankheit, keine Lebensmittelvergiftung, wurden an keiner Grenze festgehalten, steckten in keiner Straßenblockade fest, verloren nichts außer ein paar Schuhen, fanden immer ausreichend Diesel und Trinkwasser, haben uns fast nie festgefahren, hatten keine Panne außer ein paar platten Reifen und einem abgerissenen Stoßdämpfer, haben Regen, Schnee, Schlamm, Hitze und große Höhe gut vertragen, sind zum Glück nur von harmlosen Insekten gestochen worden und die verschluckten Bankkarten haben wir auch zurückbekommen…
In jedem der sieben Länder, die wir bereist haben, haben wir hingegen Menschen getroffen, die unser Herz berührten und die uns das Gefühl gaben willkommen zu sein: der freundliche Gaucho in Uruguay auf dessen Grund wir übernachten durften, Michael, der uns trotz (eigentlich verbotenem) Hund bei den (eigentlich geschlossenen) Termen von Nicanor campen ließ, der Mechaniker in Blanquillo, der – Schrauben bringen Glück – unseren ersten Platten reparierte, Florinda und Eugénio die wir in Argentinien gleich zweimal trafen und die uns mit kleinen Nachrichten während der ganzen weiteren Reise begleiteten, die bändchenknüpfende Juliana in ihrem wunderbaren Hippiebus, Andrés, der mit seiner Phantasie fliegen kann, José in seinem Naturparadies inmitten der Feuchtgebiete, den alten Mann, der uns auf dem zugigen Campingplatz mit heißem Tee versorgte, der Musiker bei den Delphinen und Luz in ihrem hübschen Häuschen in Chile, unsere Spanischlehrerin Silvia und Adrián, der hilfsbereite Schweißer in Bolivien, Juán, Juánito und Emilia, die uns das Gefühl gaben zuhause zu sein, Giovanna und ihr Vater, in die wir uns spontan verliebten, das ganze, tiefenentspannte Team des Misfits Hostel, die Kuchenbäckerin mit Lieferservice an den Bus und die brotbackenden Aussteiger in Peru, die motorradreisenden, musikmachenden Ecuadorianer auf dem Campingplatz von Hernán, Kika und Anour, die Großfamilie am Straßenrand, die uns zu frischen Guaven einlud, der freundliche Pförtner und unsere großzügige Gastgeberin Yacira in Kolumbien, pragmatische Tierärzte, flexible Polizisten, Taxifahrer mit Stadtführerqualitäten, herzliche Marktfrauen, wunderbare Tourguides und unzählige weitere Menschen, die uns mit einem Lächeln, einem Willkommen, einem Rat, einer interessierten Frage oder im Vorüberfahren einfach mit einem anerkennenden „Daumen hoch“ begegnet sind.
Unsere Reise war eine fantastische, nein, eine ganz reale ErFAHRung, die uns so viel über unsere Welt und über uns selbst gelehrt hat.
Wir konnten erleben, dass Vorstellungen und Stereotype über ein Land eben immer nur genau das sind. Wir hatten die wunderbare Chance, uns unser eigenes, auf echten Erlebnissen und Begegnungen beruhendes Bild zu machen.
Unzählige Male haben wir erlebt, dass Befürchtungen, Ängste und vorgefertigte Meinungen sich durch die realen Begegnungen mit den Menschen eines Landes in den allermeisten Fällen in Luft auflösen. Unsere Hoffnung zu erfahren, dass die allermeisten Menschen gut, hilfsbereit und freundlich sind hat sich über alle Maßen erfüllt. Und immer wieder konnten wir, über alle Sprachbarrieren und kulturellen Unterschiede hinweg und trotz unterschiedlichster Lebensrealitäten, so etwas wie eine tiefe, universell menschliche Verbundenheit miteinander spüren.
Oft waren wir stumm vor Staunen angesichts der unendlichen Vielfalt und überwältigenden Schönheit unserer Erde, oft auch fassungslos angesichts ihrer Zerstörung und hemmungslosen Ausbeutung.
Die unausweichlich immer und überall zu findenden und oft so verheerenden Folgen der Kolonialisierung, die Armut und Perspektivlosigkeit vieler Menschen, auf die wir in allen Ländern trafen, ließ viele Fragen auftauchen, machte uns nachdenklich und berührte uns sehr.
Unser Bild der Welt ist um so viele Facetten reicher geworden. Jede Begegnung, jedes Erlebnis hat Spuren in uns hinterlassen, die nachwirken und vielleicht auch unser Denken und Handeln in Zukunft prägen werden.
Es gab Tage, an denen wir unsere Entscheidung auf diese Reise zu gehen verwünscht haben, oft waren wir einfach nur glücklich darüber. Manchmal haben wir es kaum ausgehalten miteinander auf so engem Raum, und dann wieder die viele gemeinsame Zeit genossen. Wir haben uns gestritten, missverstanden und so viel von- und übereinander gelernt. Haben Pläne gemacht und wieder verworfen, die Toleranz und Kompromissfähigkeit jedes einzelnen immer wieder maximal herausgefordert, waren ratlos und erschöpft und haben wieder Wege gefunden, miteinander weiter zu reisen. Es gab Momente, Tage großer Nähe und puren Glücks, voller Leichtigkeit und Freiheit. Und wir haben gelernt, dass es Grenzen gibt, Grenzen der Aufnahmefähigkeit, Grenzen der Toleranz und Kapazität im Hinblick auf das intensive Zusammensein, die Reisedauer und die täglichen Ortswechsel, Grenzen, die jeder von uns immer wieder dehnen, manchmal auch überschreiten musste. Und die uns zeigen, dass es gut ist, jetzt nach Hause zurückzukehren.
Es fällt mir schwer, Abschied zu nehmen und ich werde wahrscheinlich mit Tränen in den Augen im Flugzeug sitzen. Und zugleich ist in uns allen große Vorfreude darauf, wieder zuhause anzukommen, Vorfreude auch auf euch alle, die ihr uns auf unserer Reise begleitet habt. Danke, dass ihr dabei wart, danke, dass ihr euch interessiert habt für all unsere ErFAHRungen.
Es war ein besonderes, wunderbares und unendlich bereicherndes Jahr für uns.
Wie schön, dass ihr da seid, wenn wir nach Hause kommen.
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