Bienvenidos a Ecuador



In ein Land reisen, in dem ein interner bewaffneter Konflikt ausgerufen wurde? Können und wollen wir das verantworten? Immer wieder stellen wir uns diese Frage, seit zu Beginn des Jahres Banden organisierter Kriminalität mit Geiselnahmen, Ermordungen und Kidnapping ihre Macht demonstriert und landesweit gewalttätige Auseinandersetzungen provoziert haben. Wie können wir in einem Land reisen, das sich im Ausnahmezustand mit Ausgangssperren und Einsatz des Militärs befindet?

Die neu eingeführte Pflicht für über Land einreisende Ausländer, ein mit Apostille versehenes Führungszeugnis vorzulegen, um ein reguläres Visum zu bekommen, scheint angesichts dieser Unsicherheiten noch das geringste Problem zu sein.

Doch wie bekommen wir verlässliche Informationen?

Zum Glück gibt es Hans. Hans, der seit vielen Jahren in Ecuador lebt und hier, bei Ibarra im Norden des Landes, die Finca Sommerwind, einen Reisendentreffpunkt, Campingplatz und Biergarten nach deutschem Vorbild betreibt.

Von ihm bekommen wir Informationen, erfahren, entlang welcher Routen wir sicher reisen können, welche Regionen wir meiden müssen und welche Grenzübergänge unkompliziert passierbar sind – und er steht in engem Kontakt zum Tourismusministerium. Über ihn können wir uns mit unseren Daten, geplantem Tag und Grenzübergang zur Einreise nach Ecuador anmelden und dürfen dann, auf Einladung des Tourismusministeriums, ohne Führungszeugnis und mit regulärem Visum die Grenze passieren.

Hans steht also am Anfang unserer Reise durch Ecuador und nun, fast schon wieder am Ende unserer Zeit hier, treffen wir ihn persönlich. Nach 3 Wochen sind wir angekommen auf der Finca Sommerwind.

Nur drei Wochen? Ich kann es kaum glauben angesichts all dessen, was wir in dieser kurzen Zeit erlebt haben. Unsicher oder gar bedroht fühlten wir uns zu keinem Zeitpunkt – im Gegenteil, selten wurden wir mit so großer Herzlichkeit und Offenheit willkommen geheißen wie hier. Fast scheint es, als würden die Menschen, denen wir begegnen alles dafür tun, ein Gegengewicht zu den negativen Schlagzeilen über ihr Land zu schaffen.

Nach einigen Stunden Fahrt liegen die endlosen Bananenplantagen der Grenzregion hinter uns und wir erreichen Cuenca, die ehemalige Inkahauptstadt des Nordens. Erstaunt schauen wir uns um – und fühlen uns fast in eine südeuropäische Großstadt versetzt. Hier gibt es eine Straßenbahn, große Grünflächen, französisch geprägte Architektur und der Straßenverkehr fließt ungewohnt ruhig und geordnet auf den vorgesehenen Spuren dahin… Der Hinterhof von Miriam ganz in der Nähe des historischen Zentrums wird für zwei Tage unser Zuhause. Vor Lebendigkeit und Herzlichkeit sprühend empfängt sie uns, versorgt uns mit Drachenfrucht zum Frühstück und reichlich Informationen über alles. Einen Tag lang streifen wir durch die Stadt, vorbei am fröhlich bunten Blumenmarkt zur Neuen Kathedrale, deren leuchtend blau gekachelte Kuppeln die Stadt weit überragen, zum Gerichtshof, dessen architektonische Schönheit wir im Innenhof auf uns wirken lassen, durch das Handwerkerviertel oberhalb des Flusses zu einem Hutmacher, der mit großer Energie und Geschwindigkeit die hier typischen Panamahüte herstellt, über den Markt, wo die weisen Frauen der Umgebung mit großen Büscheln von Heilkräutern Reinigungszeremonien durchführen bis zu den HandwerkerInnen des lokalen Artesanalesmarktes, die uns ihre Produkte und Künste zeigen. Mattis wird reich beschenkt mit einem handgemalten Bild und einem geflochtenen Püppchen, wir lernen, wie die weißen Panamahüte aus den Fasern der Toquillapalme gehäkelt (!) werden und kehren schließlich um viele schöne Eindrücke und Andenken reicher zum Bus zurück.

Unser weiterer Weg führt uns zu unserem Glück genau an einem Donnerstag durch Guamote. Jeden Donnerstag strömen die Menschen der umliegenden Dörfer hierher, um auf dem großen, sich durch den ganzen Ort hinziehenden Markt ihre Waren anzubieten. Hier gibt es einfach alles zu finden, was für das Leben notwendig ist.  Obst, Gemüse, Brot, Fleisch, traditionelle und moderne Kleidung, Technik, Spielzeug, Hüte, Werkzeug, Schafe, Schweine, Hühner, frischen und gebratenen Fisch, Wachteleier und Kochbananenküchlein. Es ist ein Fest für all unsere Sinne und wir genießen es staunend, als einzige „Gringos“ für ein paar Stunden dabei sein zu dürfen.

Unsere nächste Begegnung ist an Freundlichkeit und Gastfreundschaft kaum zu übertreffen. Wir fahren entlang der Straße der Vulkane in Richtung des Chimborazo und kommen an auf der Finca Castillo de Altura. Hier empfangen uns außer drei großen Hunden Juan und Juan, Vater und Sohn, und Emilia, Ehefrau und Mutter. Es ist, als würden wir nach einer langen Reise nach Hause kommen. Hier ist unser Stellplatz, dort unser Aufenthaltsraum mit Herd und Kamin, Fahrräder in allen Größen, die wir jederzeit nutzen können, die heiße Dusche, die Waschmaschine. „Mi casa es tu casa“ – dieser Satz ist hier wirklich ernst gemeint und wie schon viele Reisende vor uns, erleben wir die Warmherzigkeit und tiefe Gastfreundschaft der Familie Castillo als etwas ganz Besonderes.

Außer der Familie leben 25 Kühe auf der Finca, sie werden von Dolores versorgt und selbstverständlich dürfen die Jungs beim Melken helfen, die Kälbchen streicheln und füttern und wir bekommen Milch, wie sie frischer nicht sein könnte.

Am nächsten Tag fahren wir in Richtung des Chimborazo. Mattis ist fasziniert von Alexander von Humboldt und dessen Forschungsreisen durch Südamerika und erzählt uns, dass dieser vor etwas mehr als 200 Jahren vergeblich versuchte, den damals vermeintlich höchsten Berg der Welt zu besteigen. Heute können wir uns dem Chimborazo im Bus bis auf eine Höhe von 4400 m nähern, stehen staunend in der dünnen Luft und beobachten, wie im Sekundentakt die Wolken die gletscherweiß leuchtenden Gipfel des Vulkans freigeben und wieder verbergen, wie der Wind Wolkenfetzen über die Ebene treibt, die alles um uns herum in dichtes Grau hüllen und nur Augenblicke später wieder den Blick in die endlose Weite freigeben.

Es ist beeindruckend, klein und demütig fühlen wir uns angesichts dieser Größe und nur ansatzweise können wir uns vorstellen, welch einer Anstrengung es Alexander von Humboldt und seiner Begleiter bedurfte, mit der Ausrüstung der damaligen Zeit die Erstbesteigung des Chimborazo zu wagen und welch eine Enttäuschung es gewesen sein muss, an einer damals noch unüberwindbaren Felsspalte zu scheitern.

In vielen Kurven führt uns die Straße weiter durch eine Landschaft von zunächst karger Schönheit und dann sattgrüne Hügel mit weidenden Kühen und Milchwirtschaftsbetrieben bis nach Salinas, einem kleinen, weit abgelegenen Ort, der dennoch zum Vorbild vieler Gemeinden Ecuadors wurde. Mit verschmitztem Lächeln hat Juan uns diesen Ausflug empfohlen – hier gibt es den besten Käse und die leckersten Schokoladen des Landes, so sagt er. Noch Mitte des letzten Jahrhunderts war Salinas ein Ort ohne Perspektive – bis ein Salesianerpater in das Dorf kam, Maschinen und Wissen über Käseherstellung mit sich brachte und begann, die Ressourcen des Ortes und der hier lebenden Menschen in einer Genossenschaft zu bündeln. Nun versuchte nicht mehr jeder Kleinbauer, die Milch seiner ein oder zwei Kühe selbst zu vermarkten, sondern lieferte sie, wie alle anderen auch, in den genossenschaftlichen Betrieben ab, wo sie seitdem zu Käse nach Schweizer Vorbild verarbeitet werden. Nach und nach entstanden neben der Molkerei Schokoladen-, Tee- und Naturkosmetikmanufakturen und auch das Salz der namengebenden Salinen wird genossenschaftlich abgebaut und verkauft. Heute arbeiten 30% der Bevölkerung in diesem gemeinschaftlichen System und Salinas ist zu einem landesweit bekannten, wohlhabenden kleinen Ort und Ziel zahlreicher Touristen und Schulklassen geworden.

Und ja, sowohl der Käse als auch die Schokolade sind köstlich 🙂

Der Abschied von Juan, Juan und Emilia am nächsten Tag fällt uns schwer, eine Freude sei es ihnen, uns zu Gast zu haben und auch uns war es eine Freude, ihre Gastfreundschaft zu genießen. Mit vielen guten Wünschen und dem Vorsatz, etwas von ihrer großzügigen Herzlichkeit weiterzutragen, verlassen wir schließlich die Finca.

Drei Tage später stehen wir im Regen. Jan wortwörtlich, wir im Bus. Neben Jan stehen ein hilfsbereiter Busfahrer und ein herbeigeeilter Anwohner. Beide reden gestikulierend auf ihn ein, versuchen, ihm den bestmöglichen Weg aus unserem Schlamassel zu erklären. Denn: wir kommen nicht weiter. Zumindest nicht so, wie geplant. Aber der Reihe nach: nach einer langen Fahrt über die Anden hinweg ins warme und feuchte Tiefland haben wir zwei Tage im Garten der Sinchi Warmi Lodge, einem Projekt lokaler indigener Frauen verbracht, haben von hier aus mit dem Kanu das AmaZOOnico, eine von einer Bambergerin gegründete Wildtierschutzstation besucht, dort unsere ersten Affen, Anacondas und Tapire gesehen und viel über ihre oft traurige Herkunft als vernachlässigte Haustiere erfahren. Und nun wollen wir weiter Richtung Norden, Richtung Cuyabeno Nationalpark, um von dort zu unserem Regenwaldausflug aufzubrechen. Doch auf diesem Weg wird das nichts. Zwei Brücken gibt es über den Fluss Richtung Norden. Die eine ist gesperrt, seit zwei Jahren schon und das Geld für die Instandsetzung verschwindet in unergründlichen Kanälen. Die andere Brücke ist nur für kleine Fahrzeuge geeignet. Nicht für uns. Und nun verstehen wir auch, warum hier so viele Reisebusse stehen. Auch sie sind zu groß für die Brücke, die Fahrgäste steigen aus, überqueren die Brücke zu Fuß und fahren auf der anderen Seite mit einem anderen Bus wieder weiter. Für uns ist das keine Option. Für uns gibt es zwei Möglichkeiten: wir können durch den Regenwald fahren, auf einer Piste, die laut dem Busfahrer normalerweise gut befahrbar ist und die uns in mas o menos 9 Stunden an unser Ziel bringen könnte. Wie sie nach den aktuell starken Regenfällen aussieht, ist allerding ungewiss. Zudem ist unser Tank fast leer und die Tankstelle liegt jenseits der Brücke. Ein Taxifahrer bietet an, uns Diesel in Kanistern herüberzufahren. Die zweite Möglichkeit: wir fahren 230 km zurück über die Anden, 250 km nach Norden über Quito und dann erneut über die Anden Richtung Osten in den Dschungel. Ein riesiger Umweg, Quito wollten wir eigentlich auch umgehen und bis zum geplanten Beginn unseres Regenwaldaufenthaltes schaffen wir das nie. Und nun?

Ungewisse Piste ohne Tankstelle gegen Umweg. Wir entscheiden uns für letzteres. Unsere Nerven sind aktuell nicht stabil genug für lange Rüttelstrecken und die Dieselbeschaffung per Taxi erscheint uns sehr mühsam. Also schreiben wir unserem Reiseagenten in Quito und bitten ihn, unsere Dschungeltour zu verschieben, statten uns mit Hörbüchern und Podcasts aus und drehen um, vier lange Fahrtage vor uns.

Ja, es wird eine lange Fahrt und doch: wir können ihr viel Gutes abgewinnen. Quito und damit eine weitere sehr herzliche Begegnung hätten wir sonst verpasst. Spät am Abend erreichen wir über steile schmale Straßen einen Campingplatz hoch über der Stadt und treffen auf den überaus gut gelaunten Andy, den kanadischen Betreiber des Platzes. Er hat einen Stellplatz für uns – eine Menge lustiger Sprüche und der fantastische Blick über das nächtliche Quito sind inklusive. Wie schön! Am nächsten Tag machen wir Pause, Jan und Luis wechseln die Bremsbeläge des Busses und da wir nun schon einmal hier sind, besuchen wir unseren Reiseagenten Luis in seinem Büro und umgehen damit den komplizierten Bezahlvorgang der Regenwaldtour bei einer Bank. Luis hat sich neben einer für uns geeigneten Tour auch um einen Urlaubsplatz für Joschi währenddessen bemüht – und uns damit überzeugt, über ihn zu buchen. Die Tochter einer Freundin von ihm wird für vier Tage unsere Hundesitterin sein.

Nach unserem Abstecher zu Luis machen wir noch einen kurzen Ausflug in die schöne Altstadt von Quito, genießen frische Säfte und den Blick auf den zentralen Platz im Schatten der Kathedrale. Wenigstens einen kleinen Eindruck von der Altstadt, der ersten Stadt, die zum UNESCO Weltkulturerbe ernannt wurde, nehmen wir so noch mit.

Von Andy mit Brezeln und köstlichem Brot aus der Schweizer Bäckerei versorgt, machen wir uns am nächsten Tag wieder auf den Weg, wieder über die Anden, wieder nach Osten in Richtung Amazonas Regenwald. In zwei Tagen wird unsere Tour in den Regenwald beginnen, werden wir für 3 Nächte aus dem Bus aus- und in eine nur mit dem Kanu erreichbare Dschungellodge einziehen. Bis dahin liegen noch viele Kilometer vor uns. Langsam schraubt sich der Bus in vielen Kurven weit über 4000 m hinauf, die Landschaft wird karger und einsamer, die Brillenbären, die hier leben, bleiben für uns verborgen.

Kaum haben wir den Pass überschritten, wird es grün um uns herum, die Luft wird warm und feucht. Entlang der Straße und jenseits des Flusses, dessen Verlauf sie folgt, zieht sich dichtes Grün die Berghänge hinauf. Grün in allen Facetten und Formen, die Laubbäume und Palmen, überzogen von Schlingpflanzen und Kakteenarten, liegen wie ein dichtgewebter Teppich an den Hängen, immer wieder verborgen von tiefhängenden Wolkenfetzen. Im Tal zieht der Fluss in weiten Schleifen dahin, an seinen Ufern weiden ein paar Kühe und entlang der Straße tauchen immer wieder einzelne einfache Behausungen, winzige Restaurants oder kleine Orte auf.

Doch es ist kein Idyll hier, kein unberührtes Paradies. Hier ist Erdölregion und es gibt eine lange, traurige Geschichte der rücksichtslosen, maximal profitorientierten Ausbeutung, Umweltzerstörung, Vertreibung indigener Volksstämme und unwiderruflicher Verluste an Flora und Fauna. Tausende Tonnen Ölrückstände und Rohöl gelangten durch die skrupellos unsachgemäße Förderung des US-Konzerns Texaco Mitte bis Ende des vergangenen Jahrhunderts unwiderruflich in die Umwelt. Die 40 Millionen Dollar, zu deren Zahlung Texaco in langen Prozessen verurteilt wurde, können kaum etwas wiedergutmachen.

Inzwischen ist die Erdölförderung weitgehend verstaatlicht, Texaco hat sich 1992 ganz aus Ecuador zurückgezogen und so kommt zumindest ein Teil der Gewinne dem Land zugute, doch die permanente Gefahr neuer Umweltkatastrophen bleibt bestehen.

Wir sehen Kahlschlag, Monokulturen und geborstene Pipelines entlang der Straße. Über weite Strecken verlaufen die Rohre überirdisch und sind schnell zerstört durch die in der Regenzeit häufig gewaltigen Erdrutsche. Die Folgen sind fatal für Menschen, Tieren und Pflanzen.

Je mehr ich über die Gefährdung und Ausbeutung dieser Region lese, desto zweischneidiger erscheint mir auch der Tourismus hier. Unbestreitbar war und ist der Tourismus ein wichtiger Beweggrund dafür, das Naturschutzreservat auszuweiten und unter strengeren Schutz zu stellen. Die jährlichen Millioneneinnahmen sind eine wichtige Einkunftsquelle vieler Menschen in der Region. Und zugleich trägt die Anwesenheit der vielen Touristen und die damit einhergehende Schadstoffemission zur Gefährdung der Artenvielfalt bei. Die Einbeziehung der vor Ort lebenden indigenen Gruppen eröffnet diesen einerseits neue Einkommensquellen, führen aber auch zu Ungleichheiten, da oft nur die besser erreichbaren Dörfer und innerhalb dieser nur einige Personen profitieren und so nach und nach der Verlust ihrer bisherigen geldlosen wirtschaftlichen Unabhängigkeit droht.

Trotz dieser Ambivalenzen sollen einige Tage im Regenwald zu unserer Ecuadorreise gehören – vielleicht in der (naiven?) Hoffnung, dass das Erleben dieser einzigartig vielfältigen und artenreichen Natur uns staunen und zugleich tief spüren lässt, wie zerbrechlich und unbedingt schützenswert sie ist und unser Bewusstsein dafür schärft, dass wir jeden Tag unzählige Möglichkeiten haben uns für oder gegen umweltfreundliches Handeln zu entscheiden.

Wir erreichen Lago Agrio, Zentrum der Erdölförderung und schnell gewachsene Kleinstadt inmitten des Dschungels. Von hier aus sind es noch einmal 100 km bis zur Cuyabeno Bridge, dem Ausgangspunkt unserer Regenwaldtour und hier lassen wir Joschi bei Nao und ihrer Familie. Der Abschied fällt uns schwer, doch wir hoffen und vertrauen darauf, dass er hier gut versorgt und aufgehoben ist.

Am nächsten Morgen packen wir unsere Rucksäcke, parken den Bus neben den kleinen Läden am Anlegesteg und ziehen aus. Wir treffen Marie aus Irland, Yuval aus Israel und Danny aus Texas. Gemeinsam mit ihnen und Faisal, einem irakischstämmigen Kalifornier, der schon einen Tag früher angereist ist, werden wir die Tage in der Tucan Lodge verbringen. Im Motorkanu und begleitet von unserem Guide Paul fahren wir 30 km weit auf dem Cuyabeno River immer tiefer und tiefer hinein in den Amazonas-Regenwald. Es ist Regenzeit im Regenwald und der Pegelstand des Flusses ist hoch. Vier Meter schlammiges, undurchsichtiges Wasser liegt unter uns und mehr kommt hinzu – ein kurzer heftiger Regenschauer lässt uns die Kapuzen unserer Regenponchos tief ins Gesicht ziehen. Kurz darauf entdecken wir die ersten Totenkopfäffchen im dichten Grün, eine kleine Anaconda hat sich auf einem umgestürzten Baumstamm zusammengerollt und zahlreiche buntgefiederte Vögel begleiten uns mit ihrem Rufen und Krächzen. Einer gefällt uns besonders gut: der Hoatzin oder stinking turkey. Laut beschwert er sich über unsere Anwesenheit und verzieht sich dann rasch ins undurchdringliche Grün des Ufers. Er sei verwandt mit dem Archäopteryx erklärt unser Guide. Die jungen Vögelchen kommen mit Krallen an den Flügelspitzen zur Welt. Droht ihnen Gefahr, lassen sie sich ins Wasser fallen und klettern mit Hilfe der Krallen entlang des Baumstammes zurück ins Nest.

In unserem Motorkanu gleiten wir leise tuckernd zwischen den grünen Wänden des Regenwaldes hindurch. Ich glaube es ist unmöglich, sich jemals an dieser Vielfalt sattzusehen und es fällt mir schwer zu beschreiben, mir scheinen die Worte dafür zu fehlen. Gibt es ein Wort, das den Anblick beschreibt, wenn Bäume, Büsche, Kaktuspflanzen, Sukkulenten, Orchideen, Palmen und Lianen sich zu einem für unsere Augen undurchdringlichen und zugleich lebendigen, lichten, unfassbar vielfältigen und sich ständig wandelnden Organismus zusammenfügen? Worte, die die unendliche Vielfalt an Grüntönen zu erfassen vermögen? Ein Wort, das beschreibt, wie es sich anfühlt, wenn zu diesem Anblick die unablässigen Laute des Urwaldes erklingen – das beständige Zirpen, Pfeifen, Rufen, Rascheln, Knacken und Rauschen? Wie überwältigend schön es ist, wenn die Wolken aufreißen und Millionen von Wassertropfen in der Sonne funkeln, wenn Spiegelbilder im trägen Flusswasser die Trennung zwischen Himmel und Erde aufheben und die Luft wie Honig, schwer und warm, gesättigt vom Duft nach Holz, Feuchtigkeit und Süße über allem liegt. Für mich ist es unbeschreiblich und unbeschreiblich beglückend, mitten darin zu sein.

Nach fast drei Stunden erreichen wir die Tucan Lodge – einfache offene Holzbauten, ausschließlich aus natürlichen Materialien gefertigt, freundlich und einladend, mit Hängematten, Liegenetzen über dem Fluss, einem großen Aufenthaltsraum, Mehrbettzimmern mit Moskitonetzen statt Fensterscheiben und Klos mit Blick in den Regenwald. Einfach und wunderbar!

Wir werden mit frisch gepresstem Saft und der ersten von vielen köstlichen Mahlzeiten begrüßt.

Die vier folgenden Tage in der Tucan Lodge werden intensiv und erfüllt, herausfordernd und erlebnisreich, lehrreich und berührend – ein faszinierendes, einmaliges Erlebnis.

Gegen Abend fahren wir mit dem Kanu zur großen Lagune, springen in das angenehm warme Wasser und sind sprachlos angesichts des unfassbar schönen Sonnenuntergangs, der unendlich vielen Farbschattierungen am Himmel und im Spiegel des Wassers. Auf dem Rückweg entdecken wir im seichten Wasser die im Dunkeln leuchtenden Augen der Kaimane und – für uns unerklärlich wie – findet unser Guide in der Dunkelheit eine kleine gelbe Schlange im Gebüsch. Ein anderes Mal gehen wir zu Fuß, ausgerüstet mit Taschenlampen, Insektenspray und Gummistiefeln durch den nächtlichen Regenwald, entdecken handgroße Spinnen, riesige und ganz kleine giftige Frösche, eine balancierende Maus und erst hier, im Lichtkegel unserer Taschenlampen, wie viele Insekten uns tatsächlich umschwirren…

Bei Tag erkennen wir an den schwankenden Ästen entlang des Flusses, wo die Affen sich tummeln, kleine Totenkopfäffchen in großen Horden und größere Wollaffen die aufmerksam in den obersten Ästen der Bäume sitzen. Weit dahinter, auf den Zweigen einer alles überragenden Palme krächzen zwei große, wunderschöne, gelb-blaue Aras. Und dann entdecken wir zu unserer großen Freude sogar ein, wie es sich gehört, faul in der Krone eines Baumes hängendes Zwei-Zehen-Faultier. Ganz kurz, aber nur wenige Meter vom Kanu entfernt tauchen plötzlich Finne und Rücken jagender Süßwasserdelphine aus dem Wasser –  es ist ein besonderer Moment, ihnen so nah zu sein und zu wissen, dass diese wunderschönen Tiere sich unter und um uns im Wasser tummeln.

Zu Beginn ist es noch unangenehm, als ein wenig Wasser durch die nicht ganz dichten Gummistiefel dringt – doch schon nach kurzer Zeit ist uns klar, dass wir hier nicht trockenen Fußes hindurchkommen werden. Wir sind zu Fuß im Regenwald unterwegs, heute wollen wir Pflanzen kennenlernen und die Wildnis hautnah erleben. Doch es ist Regenzeit und damit sind weite Teile des Waldes überflutet. Also waten wir durch überknietiefes, schlammig-braunes Wasser, stolpern über Wurzeln, rutschen über spiegelglatte Äste und tappen unverhofft in tiefe Senken… Der Rat unseres Guides, uns nicht an irgendwelchen unbekannten Pflanzen festzuhalten und besser nicht hinzufallen geht leider in den Fluten unter. Egal, die Gummistiefel sind sowieso schon bald bis zum Rand mit Wasser gefüllt und so waten wir fortan auf Wasserpolstern durch den Dschungel…

Wir sehen Pflanzen, die antiseptisch oder empfängnisverhütend wirken, entdecken Zweige, die geraucht und kleine Ameisen mit Zitronengeschmack, die gegessen werden können, schaukeln an armdicken Lianen, ertasten vorsichtig die natürliche Reibefläche an den Wurzeln wandernder Bäume und staunen über den größten Baum des Regenwaldes mit seinen gewaltigen flachen Wurzeln. Und doch sind wir alle froh, als wir wieder festen Boden unter den Füßen haben und schütten in Sturzbächen das Wasser aus unseren Gummistiefeln….

An einem Tag besuchen wir ein Dorf der Siona Indigenen, lernen dort, wie die typischen Maniokfladen gebacken werden und dürfen es selbst, von der Ernte der Wurzeln bis zum Backen über dem Feuer ausprobieren. Der Schamane des Dorfes gibt uns routiniert eine Einführung in seine Art der Heilkunst, lässt uns von verschiedenen Heiltränken probieren und behandelt das schmerzende Knie Faisals mit einem heftig brennenden aber eindeutig durchblutungsfördernden Kraut…

Wieder zurück in der Lodge rösten wir Kaffee- und Kakaobohnen über dem Feuer, mahlen, verarbeiten und verkosten sie. Ein wenig zu lange geröstet haben sowohl Kaffee als auch die selbstgemachte Schokolade einen dezenten Rauchgeschmack und sind dennoch einfach köstlich.

Die Abende verbringen wir gemeinsam mit den anderen Reisenden, erfahren aus ihrem Leben, von ihren Zielen und Träumen, haben eine Menge Spaß beim Dartspielen und versuchen unter großem Gelächter, die Uno-Spielregeln der unterschiedlichen Länder unter einen Hut zu bekommen.

Über dem Morgen, an dem ich allein auf dem Steg am Fluss sitze, liegt ein ganz besonderer Zauber. Die aufgehende Sonne schickt die ersten Strahlen durch den Dunst und die dichten Blätter der Bäume und lässt die Baumkronen am gegenüberliegenden Flussufer für wenige Augenblicke aufleuchten, bevor sich der ganze Himmel über dem Regenwald erhellt. Mit den Augen folge ich dem Flug der Papageien und Tukane weit über mir, lausche ihrem Krächzen, freue mich über die lauten Rufe der Brüllaffen, die das beständige Zirpen und Pfeifen all der anderen Urwaldbewohner mit Leichtigkeit übertönen und bewundere einen der handtellergroßen wunderschönen blauen Morpho-Schmetterlinge, der schaukelnd über der Wasseroberfläche schwebt und dessen kurzes Leben schon in einer Woche wieder vorüber sein wird.

Zum Abschluss der Dschungeltage paddeln wir in 2er Kajaks ein Stück den Rio Cuyabeno hinauf, lassen uns zurück zur Lodge treiben und bewundern den Regenwald noch einmal aus dieser ganz neuen Perspektive, noch einmal kommen wir dem Wald ganz nah und genießen das leise Dahingleiten begleitet von Schmetterlingen und Libellen.

Nach vier wunderbaren Tagen in der Tucan Lodge und einem letzten Morgen auf dem Steg am Fluss, verstauen wir unsere Rucksäcke wieder im Kanu. Der Regenwald verabschiedet sich angemessen von uns: zwei Stunden lang fahren wir durch heftig peitschenden Regen, versuchen uns in unseren Ponchos zu verkriechen und kommen äußerlich dennoch völlig durchnässt, innerlich aber erfüllt und beschenkt von den Erlebnissen der vergangenen Tage wieder bei unserem Bus an.

Schnell machen wir uns auf den Weg nach Lago Agrio und nehmen Joschi wohlbehalten und offensichtlich zufrieden wieder in Empfang. Einen Nachmittag lang erholen wir uns in den unterschiedlich heißen und gebirgsbachkalten Wasserbecken der Termas de Papallacta, fahren am nächsten Tag wieder vorbei an Quito und kommen gegen Abend in den Nebelwäldern von Mindo an.

Nicht nur außerhalb, auch im Bus herrscht inzwischen Regenwaldklima – alles ist feucht und muffig, Kleidung trocknen zu wollen ist aussichtslos. Und so sind wir froh, in Mindo, einem sympathischen kleinen Ort mit viel touristischer Infrastruktur, einen riesigen Berg Wäsche in der Wäscherei abgeben zu können.

Die Nebelwälder von Mindo, nur zwei Stunden östlich von Quito sind ein Paradies für Vogelbeobachtungen – mehr als 500 verschiedene Vogelarten leben hier. Vormittags haben wir freie Sicht auf die von dichtem Wald bedeckten Berge und die vielen Wasserfälle, nachmittags verhüllen tiefhängende Wolken den Wald und es regnet lang und ergiebig. Und so machen wir uns am nächsten Morgen früh zu einer ganz besonderen Begegnung auf: wir wollen Kolibris füttern.

Am Punto Ornitologico können wir den kleinen Vögelchen ganz nah kommen. Sie sind daran gewöhnt, Zuckerwasser angeboten zu bekommen und so wagen sie es, sich auf unsere Hände zu setzen, um aus den kleinen Schüsselchen darin zu trinken. Es ist ein wunderbares Gefühl, den Lufthauch der unfassbar schnell schlagenden Flügel zu spüren und das kaum merkbare Gewicht, wenn sie sich mit ihren winzigen Füßchen auf unseren Fingern niederlassen. Fasziniert beobachten wir, wie sie in Bruchteilen von Sekunden ihre mikrometerdünne, durchscheinende Zunge vor- und zurückziehen und damit das Zuckerwasser in ihren langen dünnen Schnabel einsaugen. Lange beobachten wir staunend und hingerissen die Vielfalt, Schönheit und Zartheit dieser Vögelchen.

Einen Tag später sind wir schon wieder unterwegs – nach so viel Zeit auf der Straße sehnen wir uns nach einer Pause, nach einem Ort, an dem wir ein paar Tage bleiben können.

Und so machen wir nur noch einen kurzen Stopp auf unserem Weg in Richtung Finca Sommerwind. Nach 9 Monaten auf der Südhalbkugel wollen wir den Äquator nicht überqueren, ohne diesen Moment zu würdigen. Wir statten dem Museo Solar in Qitsato (= Mittelpunkt der Erde) einen Besuch ab. Hier ist das einzige Monument Ecuadors zu finden, dass exakt auf dem Äquator errichtet wurde: eine große, begehbare Sonnenuhr, deren Zentrum, eine 10m hohe Säule, direkt auf der Äquatorlinie steht. Nun sind wir zurück, nach neun Monaten zurück in der nördlichen Hemisphäre.

Gegen Abend erreichen wir die Finca Sommerwind. Und fühlen uns plötzlich ein bisschen wie zuhause. Überall um uns herum wird deutsch gesprochen, es gibt deutsches Bier und deutsches Essen, seit Beginn unserer Reise sind wir nicht so vielen deutschsprachigen Reisenden begegnet. Es ist ein bisschen seltsam und ungewohnt und doch wir spüren schnell, wie gut es uns tut. Wie wohltuend es ist, nach so langer Zeit mit Menschen in Kontakt zu sein, mit denen wir uns ohne Sprachbarriere austauschen können. Es tut gut, nicht nur zu fünft im Bus zu ein, sondern die Möglichkeit zu haben, mit anderen Menschen Zeit zu verbringen und von ihnen und ihren Erlebnissen zu hören. Auch David und Prune aus Frankreich mit ihren vier Kindern Vanille, Theophile, Apolline und Anatole treffen wir hier – und verstehen uns in einer Mischung aus englisch, französisch und spanisch auf Anhieb. Jan erledigt gemeinsam mit David die Ausreiseformalitäten für den jeweiligen Familienhund, Mattis freundet sich mit Anatole an und verbringt Stunden damit, mit ihm gemeinsam Pfeile zu schnitzen, Lego, Verstecken oder mit dem Hundewelpen der Finca zu spielen. Ihre Verständigung funktioniert problemlos auf Spanisch. Alle Kinder gemeinsam bevölkern den großen Truck der Familie für stundenlange Monopolyrunden, abends sitzen wir bis spät in die Nacht bei Aperitif und Marshmallows am Lagerfeuer, 7 Kinder spielen miteinander Galgenmännchen mit englischen Wörtern, Händen und Füßen und Jan und ich genießen es sehr, von Prune und David von ihren, den unseren oft ganz ähnlichen, Erfahrungen als reisende Familie zu hören.

In wenigen Tagen werden wir nach Kolumbien weiterreisen – unser letztes Reiseland. Manchmal erschrecke ich bei dem Gedanken, dass unsere Reise in wenigen Wochen schon zu Ende sein wird. Haben wir denn alles erlebt, alles erfahren, alles durchlebt, entwickelt, verändert, was wir uns vorgestellt hatten? Haben wir die Reise so genossen und ausgekostet, wie wir es uns gewünscht hatten? Hätten wir nicht manches anders machen, anders planen, anders angehen können? Doch diese Gedanken sind müßig. Wir haben diese Reise so gut und intensiv und erlebnisreich gestaltet, wie es uns möglich war. Und spüren immer mehr, dass es Zeit wird, nach Hause zurückzukehren. Wir sind überreich beschenkt mit Eindrücken und Erlebnissen und immer mehr freuen wir uns auch wieder auf all das, was uns noch vor einem Jahr so leicht verzichtbar erschien. Ein Zimmer, um allein zu sein, eine Tür zum Schließen, eine bekannte Umgebung, vertraute Routinen.

Zwei Monate liegen noch vor uns, zwei Monate, um Kolumbien zu erkunden, den Bus auf den Heimweg über den Atlantik zu schicken und um unser großes Abenteuer an der Karibikküste ausklingen zu lassen.


Kommentare

2 Antworten zu „Bienvenidos a Ecuador“

  1. Avatar von Sabine Bellwinkel
    Sabine Bellwinkel

    Ich danke euch sehr für diesen weiteren ausführlichen Bericht von euren ganz besonderen Erlebnissen. Eine spanende und erlebnisreiche Zeit für eure Familie. Ich bin sehr beeindruckt von Ecuador. Liebe Grüße aus Düsseldorf, Sabine

  2. Avatar von Margrit Lee
    Margrit Lee

    Eine Frage: Was waren eure Hauptgruende (ein Hauptgrund?) fuer diese unendlich lange Reise durch Suedamerika mit „Kind und Kegel“, wie man frueher sagte?

    Ich freue mich ueber deine anschaulichen Berichte, liebe Annhild-
    aber wie erleben, durchleben denn eurer Kinder so eine unendlich lange Reise durch soviel Laender, Annhild und Jan? Ab und zu deutest du ehrlich an, dass wie zuhause man einfach Pause voneinander braucht oder andere Leute-hmh-
    Lernt man sich besser kennen, verstehen, lieben? Du schreibst immer so dankbar und erleichtert wenn ihr mal endlich guten, nourishing Kontakt mit Tiefgang bei gastfreundlichen Menschen habt-

    Kennt ihr die Geschichte von dem Schumacher, Johann Gottfried Seume, der 1801 nach Sizilien gehen wollte, „um einmal in den Aetna zu gucken“! Ein neugieriger Mann -6000km meist zu Fuss -ueber Prag, Wien, Venedig, Rom, Nepael, Syrakus- und auf dem Rueckweg ueber Paris! Er interessierte sich anscheinend hauptsaechlich fuer das Leben und die Schicksale der Menschen, denen er am Strassenrand begegnete (und einem Buch“Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
    Ihr habt soviel erlebt und ’s geht noch weiter fuer 2 Monate -wow-

    Ich bin sehr gespannt auf euer Buch! Weiterhin gute Fahrt!Mit lieben Grussen! (Alte Tante von Toronto)Margrit

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