Früher Vogel



Es ist 6 Uhr früh, ich sitze äußerst zufrieden mit meiner Kaffeetasse im noch ruhigen Bus, schaue in den morgenhellen Himmel über den Dünen und mir wird klar, dass sich etwas verändert hat: ich genieße es, früh aufzustehen, ja mehr noch: ich freue mich schon abends darauf, am nächsten Morgen früh aufzustehen. Tatsächlich. Und wenn ich nachts aufwache, auf die Uhr schaue und sehe, dass es halb vier ist, dann erwische ich mich sogar manchmal bei einem Lächeln und dem Gedanken: noch zweieinhalb Stunden, dann ist es hell genug aufzustehen! Klingt verrückt? Vielleicht. Für mich fühlt es sich herrlich lebendig und ganz leicht an. Es liegt nicht daran, dass hier jeder Tag spektakulär und voller Überraschungen ist – auch hier erleben wir anstrengende und nervenzehrende Tage. Es hat wohl eher damit zu tun, dass nicht direkt nach dem Aufstehen schon das erste “heute muss ich” lauert. Damit, dass alles, womit wir hier die Tage verbringen, entweder einer unmittelbaren Notwendigkeit entspringt (einkaufen, kochen, tanken, Schlafplatz finden) oder sich nach unseren Wünschen und Bedürfnissen richtet. Alle von außen vorgegebenen Strukturen, alle institutionellen Anforderungen und zeitlichen Rahmen fallen weg. Wir müssen uns an nichts anpassen, nichts erfüllen, was wir nicht selbst gewählt und entschieden haben. Vielleicht sind es dieser offene Raum voller Möglichkeiten, diese Unbestimmtheit und Freiheit, die es mir so leicht machen, mich auf den Tag zu freuen und ihn von frühmorgens an auskosten zu wollen.

Ich genieße es aber auch deswegen, vor allen anderen auf zu sein, weil das die Minuten des Tages sind, die ich für mich alleine habe und trotzdem mit allen zusammen bin. Die Jungs liegen warm eingemummelt in ihren Betten, Joschi schläft in seinem Nest unterm Tisch und Jan hat sich unterm Hochstelldach nochmal umgedreht. Niemand spricht, keiner will genau dahin, wo gerade kein Platz ist, stößt sich den Kopf oder sucht irgendetwas, das von irgendwo nach irgendwoanders geräumt wurde. Es sind Minuten voller Frieden und die Momente der Gewissheit, dass unsere Entscheidung, für eine Weile ganz anders zu leben, trotz aller Herausforderungen und Zumutungen genau richtig war.

Manchmal sitze ich dann nur da, trinke Kaffee, schreibe oder schaue in die Morgensonne – manchmal hält aber gerade der frühe Morgen besondere Überraschungen und Geschenke bereit:

Es ist noch nicht einmal 6 Uhr, als ich aus dem Schlaf gekrächzt werde. Ich schaue aus unserem Dachzelt und sehe den glutroten Morgenhimmel über den blauschwarzen Atlantikwellen. Das an- und abschwellende Gekrächze stammt aus den Kehlen tausender Vögel. Leise ziehe ich mich an, nehme Fernglas und Kamera, steige aus dem Bus und stehe in Kälte, Wind und einem Wunder.

40 m unter mir brandet der Atlantik dunkel an die Steilküste, der Horizont leuchtet in allen Rottönen und die Luft ist erfüllt vom Geschrei und den Flügelschlägen unzähliger Felsensittiche. Sie nisten in Höhlen in der Steilküste und versammeln sich bei Sonnenaufgang, um sich kreischend und krächzend in großen Gruppen durch die Luft zu schwingen und dann pfeilschnell über die Steilküste hinab zu ihren Nestern zu stürzen. Immer und immer wieder. Es ist ein unfassbares Schauspiel. Ich stehe einfach nur da, umschwärmt von den Sittichen und kann mich nicht satt sehen an den vorbeischießenden schwarzen Silhouetten. Mit Sonnenaufgang gewinnen sie langsam ihre Farben zurück und nun erkenne ich ihr grün, blau und gelb leuchtendes Gefieder im ersten Morgensonnenschein. Es sind Minuten inmitten reiner Lebensfreude und Energie.

Manchmal ist das Glück am früher Morgen aber auch so groß, dass ich es unbedingt teilen will. Und so fährt Jan erschrocken aus dem Schlaf, als er mich früh am Morgen von draussen, von der Abbruchkante der Steilküste her rufen hört. Kurz zuvor, während ich auf das Blubbern des Kaffees wartete, hatte ich durchs Fenster etwas schwarz Glänzendes zwischen den Wellen entdeckt. Und nun stehe ich hier, sehe die Wale, drei oder vier, ganz nah und kann mein Glück nicht für mich behalten. Und so sind kurze Zeit später ausser Jan auch die Jungs aus den Betten, stehen in Schlafanzug und Windjacke neben mir und wir beobachten gemeinsam und voller Faszination, wie immer wieder die großen, in der Morgensonne nass glänzenden Fluken aus den Wellen auftauchen, wie sich gewaltig große, mit Seepocken besetzte Köpfe über die Wasseroberfläche heben und die riesigen geschmeidigen Leiber auf- und abtauchen. Möwen begleiten die Wale, lassen sich auf ihren Köpfen nieder und ein Stück weit tragen. Es ist ein zutiefst berührendes und beeindruckendes Erlebnis, diesen urtümlichen und doch so eleganten Giganten, die uns Menschen an Größe und Kraft so himmelhoch überlegen und dennoch so verletzlich sind, im wahrsten Wortsinn in die Augen zu schauen.

Auch als die Jungs sich, durchgepustet vom kalten Wind und um viele schöne Bilder reicher, wieder in ihre Betten verkrochen haben, stehe ich noch lange an der Küste und kann nicht aufhören zu schauen und mich zu freuen.

Ich habe den leisen Spott in den Worten von Luis wohl gehört, als er sagte, ich hätte die Gabe, mich auch über den 1000. Papagei noch genau so zu freuen, wie über den ersten. Stimmt, ich freue mich auch noch über das fünfzigste Auftauchen einer Walfluke und sogar über den 5973. Papagei.

Welch ein Glück, diese Gabe zu haben und wie schön, dass das jemand so klar erkannt und benannt hat 🙂. Dafür werde ich mich später bei ihm bedanken – wenn er ausgeschlafen hat.

Und hier noch ein paar Fakten zu den Felsensittichen, für die, die mehr wissen wollen:

In El Condor, südlich von Buenos Aires lebt die weltweit größte Felsensittichkolonie. Jährlich brüten hier 35.000 Sittichpaare, die jedes Jahr wieder in ihre vorherige Nisthöhle zurückkehren. Die Höhlen picken sie bis zu 3m tief in den weichen Sandstein, der die 14 km lange Steilküste bildet. Die Sittichpaare bleiben lebenslang zusammen, die Aufzucht der 3-5 Jungen betreiben sie gemeinsam.

Die Wale, die vor der Küste zu sehen sind, sind hauptsächlich Südliche Glattwale, die jedes Jahr in Buchten der argentinischen Küste kommen, um sich zu paaren und ihre Jungen aufzuziehen. Sie gehören zu den Bartenwalen, die ihre Nahrung, hauptsächlich tierisches Plankton, durch die Barten, fein gefiederte Hornplatten aus dem Wasser filtern. Im November endet die Geburtsphase der Kälber, die schon bei Geburt ein Länge von etwa 5m aufweisen und die Wale ziehen weiter zu ihren Weidegründen.


Kommentare

4 Antworten zu „Früher Vogel“

  1. Avatar von Körber Silvia
    Körber Silvia

    Annhild deine Bericht sind immer wieder zauberhaft danke für deine tollen Berichte. Viele Grüße Mina.

    1. Avatar von Annhild
      Annhild

      Liebe Mina, danke für deinen zauberhaften Kommentar:)
      Ich freu mich von dir zu lesen!
      Liebe Grüße an euch alle!

  2. Avatar von Ingeborg Weber
    Ingeborg Weber

    Hallo ihr,
    herzlichen Glückwunsch zu der von Luis erkannten Gabe.
    Eine andere Gabe ist es so anschauliche und literaturverdächtige Berichte zu schreiben.
    Von den “nervigen” Tagen würde ich auch gerne erfahren, damit ich nicht denken muss, ‘ihr lebt jetzt monatelang nur im Paradies’.
    Unvorstellbar unnormal.
    Macht es weiter gut! Inge

    1. Avatar von Annhild
      Annhild

      Najaaa, es ist schon ziemlich paradiesisch hier… 😉. Aber es kommt auch noch ein Bericht übers „echte“ Leben mit Höhen und Tiefen. Liebe Grüße von uns allen!

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