“So hab ich mir das vorgestellt!” sagt Jan als wir mit Kaffeetassen in den Händen, Morgensonne im Gesicht und dem Atlantik vor Augen am Strand sitzen. Joschi schnüffelt um uns herum und im Bus zwischen den Dünen schlafen noch die Jungs. Vermutlich werden es für heute die einzigen Minuten sein, die wir für uns haben. Es ist unsere Zeit, um uns darüber auszutauschen, wie es uns geht, was gerade schön, was schwierig ist, was wir uns wünschen und vorhaben – oder auch, um einfach miteinander auf den Ozean zu schauen und zu genießen, dass genau jetzt unsere Vorstellung von vor so vielen Monaten wahr geworden ist.
Es sind kostbare Minuten und nicht jeden Tag gelingt es uns, uns diese Zeit zu zweit zu nehmen. Je länger wir unterwegs sind, desto mehr spüren wir aber, wie wichtig sie für uns und damit für uns alle ist.
Schließlich gehen wir zurück zum Bus. Es ist ein Reisetag. Wir fahren weiter, müssen einkaufen, den Wassertank auffüllen, tanken und – wenn wir nicht einen Campingplatz ansteuern – einen ruhigen, sicheren und schönen Platz für die Nacht finden.
Wir sind unterwegs auf der Ruta 3 in Richtung Süden, der legendären Strecke durch Patagonien, biegen aber immer wieder für einige Kilometer auf die unbefestigte Küstenstraße ab, die uns mit traumhaften Ausblicken, menschenleeren Stränden und einsamen Buchten lockt.
Menschenleer bedeutet aber auch: keine Läden, keine Tankstelle, kein Internet. Wir planen also immer ein paar Tage im Voraus, schauen, dass Wasser, Lebensmittel und Diesel ausreichen, um zwei oder drei Tage nur mit Schafen, Vögeln, Gürteltieren, Seelöwen, Guanakos, Meer, Wind, Muscheln, und Weite bis zum Horizont zu verbringen.
Vielleicht ist Mattis schon wach, wenn wir zurück zum Bus kommen, liest oder schreibt oder spielt mit seiner kleinen Herde Schleichtiere, die mit auf die Reise durfte. Luis und Hannes werden noch schlafen oder sich zumindest ziemlich überzeugend schlafend stellen. Reisetag bedeutet auch: kein Ausschlaftag. Deshalb gibt es dann manchmal Frühstück ans Bett – bei 5qm Wohnfläche müssen wir praktischerweise zum servieren nicht mal vom Tisch aufstehen.
Alles weitere bis zur Abfahrt ist inzwischen Routine: abwaschen, Luis Bett über der Fahrerkabine hochziehen, Aufstelldach einklappen, Pipibox ausleeren, Schranktüren verschließen, Wasserflaschen füllen und verteilen. Joschi merkt, dass es bald losgeht und drängelt sich schon zwischen Schuhen, Mülleimer und Fernglas nach vorne in den Fußraum des Beifahrersitzes, seinem selbstgewählten Lieblingsreiseplatz.
Ein Blick zurück, ein leiser Dank und Abschiedsgruß an einen wunderschönen Ort, an dem wir uns für ein paar Stunden sicher, wohl und willkommen gefühlt haben.
Und dann haben die Jungs meist auch schon Stöpsel in den Ohren oder ein E-Buch vor den Augen – Reisetage sind auch Tage des ungestörten Lesens, Lernens oder Hörbuchhörens.
Einkaufen und tanken gehören nicht zu den “so hab ich mir das vorgestellt” Momenten. Können sie gar nicht. Davon, wie sich diese alltäglichen Notwendigkeiten hier gestalten, hatten wir keine Vorstellung, keine Bilder gesehen, keine Wünsche damit verknüpft, keine Berichte anderer Reisender darüber gelesen.
Inzwischen kennen wir die dicken 1000-Peso Bündel, rechnen mit der Inflation, wissen, in welchem Supermarkt wir meistens alles finden, was wir brauchen und in welchen der vielen kleinen Läden entlang der Ortsstraßen wir gehen müssen, wenn etwas fehlt. Wir freuen uns, wenn wir zufällig am Markttag in einem Ort sind und Obst und Gemüse in großer Auswahl und zu geringen Preisen kaufen können. Wir kalkulieren die lange Siesta mit ein und kennen die Tankstellen, an denen wir meist auch kostenlos unseren Wassertank befüllen dürfen. Wir wissen, es ist schwierig, ungesüßtes Kaffeepulver und unmöglich, Joghurt ohne Gelatine zu bekommen, sind bestürzt über den geringen Preis, den wir für zwei große Taschen frisch gewaschener, getrockneter und sorgfältig gefalteter Wäsche an die 7 gut gelaunten Wäscherinnen zahlen müssen, wissen, dass es auf ausnahmslos jedem Campingplatz und in jedem Park ausreichend Grillstellen für ein ganzes Dorf gibt, fahren nur noch selten falsch herum in eine der vielen Einbahnstraßen und werden freundlich winkend und hupend darauf hingewiesen. Wir mögen die Harmlosigkeit und Freundlichkeit der zahlreichen streunenden Hunde, haben akzeptiert, dass es ausschließlich Brot aus 0000-Mehl gibt und das argentinische Süßgebäck unwiderstehlich ist. Die Fleischliebhaber freuen sich über die niedrigen Preise und die hohe Qualität des Fleisches, wir haben erlebt, dass unser Bus auch ganz ohne Hebebühne und Spezialwerkzeug auf der Straße repariert werden kann, und nette Schuhverkäufer mit passenden Schuhen für Mattis und tolle Buchhandlungen gibt es auch in Commodoro Rivadavia.
All das ist kein Wiedererkennen unserer Träume von zuhause, das sind neue Erfahrungen, die uns herausfordern, uns hellwach und aufmerksam machen, bereichernd und manchmal auch ermüdend und zu viel sind, die aber unabdingbar zu unserem Leben hier dazugehören. Sie sind der Hintergrund in den sich die Mosaiksteinchen der “so hab ich mir das vorgestellt Momente” einfügen und erst dadurch entsteht ein vollständiges, detailreiches Bild.
Vielleicht hatte Jan tatsächlich schon zuhause ein inneres Bild von uns am Atlantikstrand, das er hier wiedererkannte. Ich glaube, oft ist es viel weniger konkret, sind es eher Gefühle, die Erfüllung einer Sehnsucht oder die Stillung eines Bedürfnisses, worauf wir hofften, ohne ein genaues Bild dazu im Kopf zu haben. Und so sind es ganz unterschiedliche Situationen, in denen dieser Satz in uns auftaucht und wir voller Dankbarkeit und Glück denken “genau so hab ich mir das vorgestellt”.
Es kann zum Beispiel ein ganz kurzer Momente unterwegs auf der Ruta 3 sein: dann, wenn uns beim Blick aus dem Fester wieder einmal klar wird, dass wir jetzt, in diesem Augenblick wirklich wirklich mittendrin sind in einem der traumhaften Reiseführerbilder, wirklich auf dem Weg sind nach Feuerland durch diese grandiose, atemberaubende Weite, die kein Ende zu haben scheint, die so weit reicht, dass die Erdkrümmung am Horizont erkennbar ist und in der auf hunderten von Kilometern Schafe und Guanakos die einzigen Lebewesen zu sein scheinen.
Es kann auch das Erleben bisher nicht gekannter, vollkommener Stille sein, nachts mitten im Nirgendwo unter einem über und über funkelnden Sternenhimmel.
Genauso das plötzliche Auftauchen riesiger Sanddünen neben der Fahrbahn und der große Spaß im überdimensionalen Sandkasten inklusive gemeinsamer (und erfolgloser) Suche nach Hannes` Schlappe, die in Sekundenschnelle vom feinen Sand verschluckt wurde.
Auch ganze Tage können durchdrungen sein von dem Gefühl, dass wir es uns, ohne die konkreten Umstände vorher zu kennen, genau so vorgestellt hatten.
Zwei solcher Tage erleben wir bei José. Zufällig treffen wir ihn, als wir nach einem Stellplatz suchen und finden bei ihm einen Ort, der uns tief berührt und beglückt. Eine weite Grasfläche ist unser Stellplatz, eine einladende Lodge mit großer Terrasse bietet Schatten und Ausblick auf ganze Familien von Wasserschweinen, die friedlich im Licht der untergehenden Sonne grasen. Bis an den Horizont erstreckt sich die Sumpflandschaft des Paraná-Tals mit glitzernden Wasserflächen, Gräsern und kleinen Büschen und Hunderten von Vögeln, die ihre Kreise ziehen, zwischen den Grasbüscheln verschwinden und in großen Schwärmen wieder in den Abendhimmel aufsteigen. Dieser Ort ist erfüllt von Schönheit und Harmonie, unendlich vielfältig und sorgsam und liebevoll gepflegt. Jede Pflanze, jedes Tier und auch wir Menschen dürfen hier einfach sein und fügen uns auf eine fast magische Weise ein in die Natur, die uns umgibt. Wir erleben Sonnenuntergänge in unvorstellbar intensiven Farben, Nächte unter Vollmond und Sternenhimmel, eine Bootsfahrt zu Kaimanen, Wasserschweinen, Vögeln und Hirschen – und selten wie nie ist uns klar, dass Glück ganz einfach sein kann. Ja, so haben wir uns das vorgestellt.
Und manchmal sind es einfach ein paar Stunden, die wir gemeinsam am Strand verbringen, wie eine der vielen Seelöwenfamilien im Sand liegen, entspannt, zufrieden, genau hier und jetzt am richtigen Ort. Dann fühlt sich das Leben so leicht an – und genau so, wie wir es uns vorgestellt haben.
Es gibt noch viele solcher Momente, in denen die Sehnsucht nach gemeinsamen Erlebnissen, nach unbeschwertem Miteinander, nach Freiheit, Leichtigkeit und herrlicher Planlosigkeit erfüllt werden … Wenn Jan mit den Jungs am Strand aus Metallschrott eine Feuerstelle baut, wenn wir gemeinsam bewundern, wie elegant und pfeilschnell die an Land so tollpatschigen Pinguine sich im Wasser bewegen, wenn wir aus Anlass der Wahlen gemeinsam über argentinische Politik und Geschichte recherchieren, wenn sich Fragen nach Gezeiten, Mondlaufbahn, Kolonialismus, Sprachentstehung und Geologie ganz selbstverständlich und konkret aus unserem täglichen Erleben ergeben …
Und auch wenn wir, wie gerade jetzt, alle gemeinsam im Bus sitzen, die geöffnete Schiebetür lässt Wind, Staub und Sonne herein, auf der einen Seite glitzert das Meer, auf der anderen liegt der kleine Fischerort Puerto de San Julián. Heute ist kein Reise-, sondern ein Pausentag. Wir stehen als einzige Gäste auf dem kleinen Campingplatz, ich schreibe, Jan speichert Fotos, Mattis knobelt, Hannes beschäftigt sich mit Termen und Variablen, Luis pflegt Kontakte und Joschi schläft unterm Tisch.
Später werden wir uns den Nachbau des Schiffes anschauen, mit dem Magellan vor 503 Jahren hier anlegte, bevor er die erste Messe auf südamerikanischem Boden feierte, nach der Siesta eine Pescaderia suchen, um heute auch einmal Fisch auf den Grill legen zu können, Blogeinträge hochladen, mit Joschi an den Strand gehen, die heiße Dusche genießen und heute Abend wieder ein paar Kapitel aus Paul Theroux` “Der alte Patagonienexpress” vorlesen. Eine Menge Gelegenheiten für “so hab ich mir das vorgestellt” Momente.
Nachwort und Ausblick:
Bis ihr diesen Text lesen konntet, hat es aus verschiedenen Gründen eine Weile gedauert. Wir waren viel unterwegs, die Tage sind gut gefüllt, oft waren wir offline. Ich brauchte aber auch Zeit, um zu fassen zu bekommen, was ich erzählen will. Es ist so viel, was wir erleben, oft beginne ich Texte im Kopf zu entwerfen, schreibe Bruchstücke auf, habe neue Ideen, streiche und verwerfe – so lange, bis ich meine, die Essenz dessen, was mir gerade wichtig und präsent ist, erfasst zu haben und ausdrücken zu können. Und das ist das, was ihr dann zu lesen bekommt.
Ich habe diesen Text begonnen mit “So habe ich mir das vorgestellt” und hatte dabei vor, auch über die andere Seite zu schreiben, über das, was schwierig und nervenzehrend ist. Während des Schreibens ist mir klar geworden, dass die ganz großen Herausforderungen bisher weniger im Außen zu finden sind – da entwickeln wir alle eine immer größere Gelassenheit und orientieren uns zunehmend entspannt am argentinischen “tranquillo” – wie es jedoch gelingen kann, in unserem kleinen Kontext und auf dem engen Raum, den wir miteinander bewohnen, die Balance zu finden zwischen den Bedürfnisse und Wünschen jedes einzelnen, diese Herausforderung begleitet uns täglich und braucht Energie und Zuwendung. Es fordert uns alle – und dennoch ist auch das etwas, was ich mir vorgestellt und worauf ich mich auch gefreut habe. Bedingt es doch ein intensives Auseinandersetzen miteinander, ein manchmal ganz neues Kennenlernen und vor allem viel Hinterfragen dessen, was bisher normal und gewohnt war. Und da sind wir mittendrin. Vermutlich wird es auch dazu einen Text hier geben – dann, wenn es passt 🙂
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