Nein, das ist nicht der richtige Platz. Nicht der Platz, an dem wir Silvester verbringen wollen. Zu nah an der Straße, zu klein, zu wenig geborgen.
Es ist der Morgen des 31. Dezember und wir wissen nicht, wo wir die Silvesternacht verbringen werden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterzufahren. Viel weiter als eigentlich geplant. Über trockene Schotterpisten, einen Pass, durch kahle Berglandschaft und schließlich wieder in ein Tal hinunter. Hier fließt ein Fluss durch die staubige Landschaft und hier gibt es angeblich Stellplätze, schöne Stellplätze. Ich bin angestrengt, mache mir Gedanken darüber, was wird, wenn wir keinen schönen Platz finden. Der in alle Ritzen kriechende Staub und die waschbrettartigen Pisten, die den Bus, uns und alles was darin ist lautstark durchrütteln, zehren an meinen Nerven. Und dann liegen da auch noch drei tote Ziegen. Puh. Hier sollen wir Silvester verbringen? Ich lege mich mit den Jungs an, die nichts davon halten, noch weiter zu fahren, fühle mich unverstanden, alleine mit meiner Einschätzung und zu Unrecht kritisiert. Jan und Luis steigen aus, laufen ein paar hundert Meter weiter zum Fluss hinunter, schauen sich um, kommen zurück und haben entschieden, dass wir bleiben. Unten am Fluss, dort ist unser Stellplatz. Aha. Ich stimme zu, unzufrieden, immer noch genervt und mit dem Gefühl, nichts ändern zu können. Widerwillig steige ich aus, gehe ein paar Schritte, schaue mich um. Ich sehe den Platz am Fluss, eine kleine Grasfläche unter dem großen Baum mit den weit ausladenden Ästen, rundgeschliffene Kiesel im rauschenden, kristallklaren Wasser, die felsgekrönten Berge im Hintergrund. Und ich merke, wie ich ganz unwillkürlich tief Luft hole. Langsam lässt meine Anspannung nach, verfliegt die Unzufriedenheit. Nach und nach kann ich mich mit offenem Herzen umsehen, die Schönheit des Ortes wirklich wahrnehmen. Es dauert noch eine Weile, bis ich aussprechen kann, dass ich dem Ort und den Jungs Unrecht getan habe mit meiner Ablehnung. Aber dann spüre ich, wie sich langsam ein warmes Gefühl der Freude in mir ausbreitet, Freude darüber, hier zu sein und die Gewissheit, dass hier, unter dem Schutz der gewaltigen Araukarie, ein guter Ort für unser Silvester ist.
Die Araukarie bietet uns Windschutz und Schatten, ihre abgestorbenen Äste, die Jan und Luis aus großer Höhe mit Hilfe eines Seils herunter brechen, sind unser Feuerholz, zu ihren Füßen bauen wir unsere Feuerstelle.
Als es in Deutschland schon Mitternacht ist und die Silvesterraketen fliegen, sitzen wir im goldenen Abendlicht und garen das Fondue mit langen Ästen im großen Topf überm Feuer. Als später die ersten Sterne durch die Äste der Araukarie funkeln, sitzen wir am Feuer und erzählen uns, woran wir uns als erstes erinnern, wenn wir an das vergangene Jahr denken. Es ist berührend zu hören, dass bei jedem von uns Begegnungen mit anderen Menschen zu den schönsten und wertvollsten Erinnerungen gehören. Erlebnisse aus den ersten Monaten des Jahres in der Schule, Gespräche und schöne Abende mit Freunden, besonders intensive gemeinsame Unternehmungen oder auch die Begegnungen am Wegesrand mit anderen Reisenden. Ich denke an den letzten Blogtext – ja, es sind die Begegnungen, die das Leben reich machen, leuchtende Glücksmomente in unserer Erinnerung hinterlassen.
Kurz vor Mitternacht werfen wir kleine Zettel mit unseren Wünschen fürs nächste Jahr ins Feuer – vor uns liegt so viel Unbekanntes und Ungewisses, Verheißungsvolles und Überraschendes wie nie zuvor. Möge es ein gutes Jahr werden, für uns, für euch und für die Welt.
Um Mitternacht dann stehen wir staunend unterm leuchtenden Sternenhimmel und wieder einmal bin ich einfach nur glücklich, hier und unterwegs zu sein. Nachdem unser Feuer erloschen ist, klettern wir müde in unser Dachzelt und sehen bevor wir einschlafen gerade noch, wie die Mondsichel golden leuchtend über den Bergen aufgeht.
Nach zwei Tagen im Schutz der Araukarie fahren wir weiter, freuen uns darüber, wie ungewohnt es sich anfühlt, die ersten Tage des neuen Jahres unter blauem Himmel und in der Wärme der südlichen Sommersonne zu erleben.
Wir durchqueren Araukariengebiet. Trockene, staubige Pisten führen uns in bis zu 2000 m Höhe durch karge Berge, bedeckt nur von spitzem, schneidenden Gras und niedrigen Dornenbüschen. Jeder entgegenkommende Lastwagen hüllt uns für Sekunden in eine dichte Staubwolke, nicht immer gelingt es uns, die Fenster rechtzeitig zu schließen, unsere Haare sind stumpf vom Staub, aus unserer Kleidung steigen Staubwolken auf, wenn wir daran zupfen. Er setzt sich in jede Ritze, überzieht alle Flächen und hat sich tief in unsere meist nur in Flipflops steckenden Fußsohlen eingearbeitet… Doch über den Staub, mit ihren dicken Wurzelsträngen, die sich wie vielfingrige Riesenhände über den Boden ziehen fest in der Erde verankert, erheben sich die riesigen, hunderte Jahre alten tief dunkelgrünen Bäume, in deren Kronen jetzt im Sommer hellgelb die kugeligen Fruchtstände leuchten. Es ist ein wunderschöner Kontrast, der uns immer wieder fasziniert und staunen lässt. Und vielleicht hat auch unser Silvesterplatz dazu beigetragen, dass wir uns in Gesellschaft der Araukarien ganz besonders wohl fühlen.
Ein anderer Grund für mich, mich hier wohlzufühlen sind die vielen Ziegenherden, denen wir hier begegnen. Hunderte von kurz- und langhaarigen Ziegen und Zicklein, oft in Begleitung einer kleinen Herde halbwilder Pferde mit ihren Fohlen oder auch eines Hütehundes, bevölkern die karge Landschaft, bewegen sich wie ein Strom über die Berghänge hinweg oder kommen uns ganz nah, wenn wir gemeinsam auf der Straße unterwegs sind. Ich mag ihre Lebhaftigkeit und Neugierde, die Leichtigkeit, mit der sie Hindernisse überwinden und jedes Mal sorgen sie für Begeisterung und gute Laune im Bus und für den Wunsch nach einer eigenen kleinen Ziegenherde…
Unser weiterer Weg überrascht uns fast jeden Tag mit neuen Ausblicken. Wir fahren zwischen Hunderten von Vulkanen hindurch, deren gewaltige, schwarze Lavaströme, vor Jahrtausenden in bizzaren Formen erstarrt, die Landschaft formen. Dann durchqueren wir steinige Halbwüste auf dem Weg in die Anden, verbringen dort zwischen hohen Gipfeln auf über zweitausend Metern Höhe zwei Tage am Fluss, fahren wieder weiter Richtung Norden, und finden uns plötzlich umgeben von blühenden Sonnenblumenfeldern, Weinreben und großen Ackerflächen, begegnen Lastwagen voller Tomaten und Knoblauch, sehen wieder Palmen und Kakteen, sind inmitten der fruchtbaren Ebenen von Mendoza angekommen.
Es sind so viele Eindrücke, so viel, was uns staunen und bewundern lässt, so viele Bilder, die aufgenommen und verarbeitet werden wollen, dass ich manchmal das Gefühl habe, wir stoßen an die Grenzen unserer visuellen Aufnahmekapazität. Dann ist es Zeit, andere Sinne anzusprechen und so suchen wir in den ersten Tagen dieses Jahres nach Aktivitäten, die uns in Bewegung bringen, uns unsere Umgebung anders erleben lassen. In Villa Pehuenia am Lago Alumine treffen wir am Touristenkai auf Hernan. Hernan sprüht vor Energie, redet und lacht und gestikuliert und verschwindet dann ganz plötzlich, als wir ihn bitten, ein bisschen langsamer zu sprechen, damit wir eine Chance haben ihn zu verstehen. Zurück kommt er mit Eugenia, die uns ausführlich und auf englisch und nur ab und zu von lustigen Kommentaren Hernans unterbrochen, erklärt, welche Kajaktouren sie im Angebot haben. Jan, Luis und Hannes entscheiden sich für eine dreistündige Tour zu kleinen Inseln im See, mit Pause dort zum Schwimmen und Klippenspringen. Mattis möchte lieber mit einem der großen Schwanentretboote fahren und so machen wir gemeinsam die Bucht unsicher und versuchen Wildgänse zu fangen, während Jan, Luis und Hannes am nächsten Morgen in Begleitung von Hernan und Maxi und mit einer Gruppe argentinischer Soldaten aus dem Nachbarort auf Kajaktour gehen. Hernan ist sich seiner Guide-Qualitäten sehr sicher und kündigt Jan und die Jungs als „Familie aus Deutschland, die heute den besten Tag ihrer Reise erleben wird“ an. Ein sehr schöner Tag ist es auf jeden Fall. Die Seekajaks gleiten mühelos durchs Wasser, Maxi dolmetscht Hernans Erklärungen und steuert während der ausgedehnten Mittagspause auf der Insel viel an Wissen und Informationen über die hiesige Pflanzenwelt bei. Von ihm erfahren wir auch, dass viel weniger Touristen hier sind als in den Jahren zuvor. Die Buchungen bleiben aus, zu groß ist bei vielen die Verunsicherung nach der Wahl Mileis und der kontinuierlichen Abwertung des Peso.
Wir bleiben noch einen Tag am Lago Alumine, wandern hinter einen Wasserfall, bewundern bei einer Bootstour vom Wasser aus den Volcan Lanin und den erstarrten, weit in den See ragenden Lavatrom, übernachten noch einmal direkt am Seeufer und lassen uns vom morgendlichen kurzen Bad im gletscherkalten Wasser aufwecken bis in die Haarspitzen. Ein Stück weiter nördlich, in Chos Malal, gehen wir auf Sternenexpedition und lassen uns von Gabriel den Nachthimmel der südlichen Hemisphäre erklären, bestaunen durchs Teleskop die Monde des Jupiter, hören Legenden der alten Griechen und der indigenen Mapuche zum Kreuz des Südens und dem Sternbild des Orion und spät in der Nacht schaut sogar noch ein Sternenbewohner am Bus vorbei…
Diese Aktivitäten tun mir gut, machen mich und uns alle ausgeglichener und zufriedener.
Und dennoch gibt es sie natürlich, die vielen Momente, in denen ich oder einer meiner Reisegefährten unzufrieden, unausgeglichen, angestrengt, überfordert oder genervt ist, Heimweh hat und einfach alles blöd findet.
Ich hoffe, dass es mir in diesen Situationen immer wieder gelingt, mich an mein Silvesterplatzerlebnis zurückzuerinnern. Mir in Erinnerung zu rufen, dass meine Wahrnehmung der Welt ein Spiegelbild meines inneren Zustandes ist. Dass es helfen kann, dann nach Innen zu schauen um herauszufinden, was gerade wirklich nicht stimmt, statt allen und allem aussenherum die Schuld zu geben. Und auszuprobieren, was gut tun könnte. Vielleicht hilft es, ein paar Schritte zu gehen, durchzuatmen, eine Weile alleine zu sein, langsam und aufmerksam zu schauen, bewusst die Sonne auf der Haut zu spüren, die Ziegen zu beobachten, die dicke Rinde der Araukarie zu ertasten, Musik zu hören, mit Freunden zu telefonieren, zu schreiben, Steine zu sammeln oder weit in den Fluss zu werfen…
Vielleicht ist es auch etwas ganz anderes, für jeden von uns ganz individuell.
Wie schön wäre es doch, wenn es im Lauf der Reise jeder von uns für sich herausfinden könnte.
Während ich diesen Text fertig schreibe sind wir schon wieder ein großes Stück weiter im Norden und planen unsere Weiterreise über die Atacamawüste in Chile nach Bolivien. Dort werden wir in großer Höhe unterwegs sein und haben uns deshalb versuchsweise in den letzten Tagen schon einmal größeren Höhen genähert. Über die phantastisch schöne Straße der 365 Kurven erreichen wir einen Pass auf 3000m Höhe, fahren wieder ein Stück ins Tal hinunter und übernachten in völliger Stille in einem trockenen Flussbett inmitten der Steinwüste und im Angesicht des Aconcaguamassivs, unserem Ziel des nächsten Tages. Der Weg zum Aconcagua zieht sich in großen Bögen entlang des Ufers des Rio Colorado und Rio Mendoza durch rotleuchtende Felsmassive stetig bergan. Auf einer Höhe von 2700 m machen wir Halt an der Puente del Inka, einer natürlichen, 8m dicken Felsbrücke, die sich über eine Heilquelle spannt. Das schwefelhaltige Wasser färbt sie seit Jahrhunderten in den schönsten Gelbtönen, schmückt sie mit langsam wachsenden Stalaktiten. Der Sage nach hat hier ein Inkahäuptling Heilung für seinen Sohn gesucht, konnte die Quelle jedoch nur über eine von seinen Kriegern gebildete menschliche Brücke erreichen. Der Sohn wurde geheilt, als der Häuptling sich umwandte, waren seine Krieger jedoch für immer zu Stein geworden.
Von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung zum Aussichtspunkt auf den Aconcagua, dem mit 6960 m höchsten Berg der westlichen Hemisphäre. Vom Parkplatz aus sind es nur wenige hundert Meter, bis wir einen Blick auf das gewaltige Felsmassiv werfen können, wie schnell wir hier, in der dünneren Luft kurzatmig werden, spüren wir dennoch. Weniger gut als wir hat unsere Salsaflasche den Höhenunterschied vertragen. Der höheren Innendruck hat in der dünnen Luft wohl den Deckel aufgesprengt. Fein verteilt finden wir Tomatensalsa im ganzen Kühlschrank…
Und schon wieder sind wir weitergezogen, sind mittlerweile in Chilecito angekommen, einem kleinen, weit abseits gelegenen Städtchen inmitten einer großen, trockenen Ebene. Überrascht entdecken wir auf dem Weg hierher die ersten meterhohen Kandelaberkakteen, die weit über die niedrigen Büsche und Gräsern herausragen und deren weiße Blüten hell in der Sonne leuchten. Die vielarmigen, seltsam unbeirrbar erscheinenden Riesen vor den rot leuchtenden Felsen in der Abendsonne sind ein wunderschönes Bild, das mich wieder einmal spüren lässt, wie weit wir von allem, was uns vertraut und bekannt ist entfernt sind. Wieder sind wir in einer für uns ganz neuen Umgebung angekommen. Wir versuchen unseren Tagesrhythmus der Hitze anzupassen, fahren früh morgens los und machen eine ausgedehnte Siesta – und wenn wir Glück haben, liegt ein kleiner Canyon mit naturgeschaffenen Badegumpen am Weg – eine herrliche Abkühlung, ein kleines Abenteuer, und ein wunderbares gemeinsames Erlebnis, schwimmend und kletternd bis zur letzten Gumpe mit dem kleinen Wasserfall vorzudringen.
Die ersten beiden Wochen des neuen Jahres sind vorüber – zwei Drittel unserer Reise liegen noch vor uns – neue Länder, neue Herausforderungen, neue Erfahrungen, neue Abenteuer.
Und weil ich finde, dass es sowohl im Großen, als auch im Kleinen so gut passt, möchte ich ein Gedicht mit euch teilen, dass mir durch eine Neujahrsmail in Erinnerung gerufen wurde (danke, liebe M.!) und das ich einfach wunderschön finde:
GEMEINSAM
Vergesst nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden
Vergesst nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte
die uns aufblühen lässt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen
ROSE AUSLÄNDER
Schreibe einen Kommentar