Diego liebt Lego. Als Kind das kleine bunte, heute das große der Inka. Lego der Inka? Wir stehen in einer der schmalen Straßen von Cuscos Innenstadt vor einer der perfekt gefügten Mauern aus exakt behauenen Steinblöcken und lassen es uns erklären. An einzelnen Steinen entdecken wir rundliche Ausstülpungen. Rundliche Ausstülpungen, die mit einer passgenauen Vertiefung auf der Gegenseite eine feste Verbindung zwischen zwei Felsblöcken ergeben. Lego eben. Diego ist ein leidenschaftlich begeisterter Stadtführer, gespannt lauschen wir seinen Erklärungen, lassen uns anstecken von seiner Faszination für die Baukunst der Inka. Und doch schwingt in seinen begeisterten Worten auch ein wenig Schmerz mit, als er davon erzählt, wie die Spanier das ursprüngliche Qosqoo, Mittelpunkt und verbindendes Element der vier Regionen des gewaltigen Inkareiches und die Stadt seiner Vorfahren, zerstörten und bis auf die Grundmauern niederrissen, um dann auf den Fundamenten ihre Kirchen und Häuser, das neue Cusco zu errichten. Zu wissen, dass unter unseren Füßen, unter der heutigen Stadt die Grundmauern Qosqoos die Jahrhunderte überdauert haben, lässt uns mit einem anderen Bewusstsein durch die Straßen gehen. Wir lernen zu unterscheiden, welche Mauern Überreste Qosqoos sind und welche von den Spaniern errichtet wurden. Cusco ist Erdbebenregion – und so legen die Erschütterungen immer wieder alte Inkamauern frei, ohne Mörtel, ohne irgendein Füllmaterial nahtlos aneinandergefügt und durch ihre leichte Innenneigung den meisten Beben standhaltend. Die Mauern der Spanier hingegen, senkrecht nach oben ragend und mit Mörtel ausgefugt, stürzen leichter ein und geben dann zur Freude der Archäologen Keller, Untergeschosse und manchmal auch Schätze der Inka frei.
Ein kleines Detail, die kleinen Schlangenreliefs auf einzelnen Mauerblöcken, wären uns ohne Diego vermutlich entgangen. Sie zieren Steine, die Teil der Mauer einer Inkaschule waren. Warum sie gerade hier in den Stein gehauen wurden, erklärt das Weltbild der Inka: die Schlange ist Symbol für Wissen, Weisheit und Lebenserfahrung. Ein hoher Anspruch für eine Schule. Zugleich steht die Schlange für das Reich der Toten, das Reich derjenigen also, die Weisheit und Lebenserfahrung gesammelt haben. Die Welt der lebenden Menschen repräsentiert der Puma – und so gleicht folgerichtig der Grundriss des alten Qosqoo, dem Umriss eines Pumas. Der Condor schließlich ist das Symboltier der Götter und der übersinnlichen Welt.
Das verbindende Element aller drei Weltbereiche ist der Regenbogen. Und so weht, heute wie schon vor vielen Jahrhunderten, die Regenbogenflagge als Zeichen der Inka über den Dächern der Stadt.
Wir fühlen uns wohl in Cusco. Trotz der vielen Touristen und der entsprechenden Infrastruktur und Angebote, gefällt es uns. Die Altstadt ist lebhaft, voller gemütlicher Cafés und Restaurants, hübscher Läden, kleiner Gassen und begrünter Plätze. Wir lassen uns treiben, schwimmen mit dem Touristenstrom, schauen, staunen, stöbern…
Für kurze Momente erleben wir aber auch eine andere Seite Cuscos. Wir sind zum richtigen Zeitpunkt hier. Während der Semana Santa ziehen viele Prozessionen durch Cusco und wir haben das Glück, am höchsten Feiertag der Stadt hier zu sein und Momente mitzuerleben, die keine Inszenierung für Touristen, sondern echt und berührend sind.
Am Montag vor Ostern, dem Tag nach Palmsonntag, versammeln sich zehntausende Menschen zur größten und wichtigsten Prozession der Stadt. An diesem Tag öffnen sich die Tore der großen Kathedrale für den Senor de los Temblores, einen überlebensgroßen Christus aus dunklem Holz, den Schutzpatron Cuscos. Der „Herr der Erdbeben“, auf Quechua auch liebevoll Taytacha, Väterchen, genannt, soll im Jahr 1650 ein zerstörerisches Erdbeben beendet haben und wird seitdem am Montag vor Ostern auf einem großen Altar und über und über mit leuchtendroten Blüten geschmückt zur Segnung der Bevölkerung durch die Stadt getragen.
Schon lange bevor sich das Portal öffnet, ist der Platz unmittelbar um die Kathedrale von Polizisten in Galauniform abgegrenzt, unüberschaubar viele Menschen versammeln sich dicht gedrängt auf der gesamten Plaza und schauen erwartungsvoll zur Kathedrale hinauf. Manche haben sich kleine Klappstühle mitgebracht, sind mit ihren ganzen Familien hier, alte Menschen sitzen auf den wenigen Bänken, kleine Kinder werden hochgehoben oder auf einen Tritt gestellt, Übertragungswagen verschiedener Fernsehsender bringen Moderatoren und Kameras auf den Autodächern in Stellung. Und dann – nur wenige Minuten, bevor der Heilige erscheinen soll – entlädt sich ein Gewitter über der Stadt. Es donnert und schlagartig setzt der Platzregen ein. Nun machen die Regenschirm- und Ponchoverkäuferinnen gute Geschäfte, auch wir erstehen schnell einen großen Schirm, drängen uns darunter und auch eine kleine alte Dame findet noch ein halbwegs trockenes Plätzchen bei uns. Ein Meer aus Regenschirmen und pastellfarbenen Plastikponchos färbt den Platz bunt, während alle Augen weiterhin auf das große Portal gerichtet sind. Die von Hand geschwenkten Glocken der beiden Glockentürme beginnen zu läuten, mischen sich mit Sirenengeheul, Blaskapellenmusik und dem tiefen Tönen von Muschelhörnern in den Donner und das Rauschen des Regens und vermengen sich zu einem surreal dissonanten Klangteppich. Die erwartungsvolle Spannung ist spürbar, kaum jemand spricht. Dann öffnen sich langsam die großen Flügeltüren. Zentimeterweise bewegt sich die übergroße Gestalt unter den Torbogen, getragen von 20 Männern und überreich geschmückt mit roten Blütenblättern und Girlanden. Es ist still auf dem Platz, nur die Glocken und Muschelhörner sind noch zu hören. Stumm recken die Menschen ihre Handys in die Höhe, um den Moment festzuhalten. Es ist ein bewegender Moment, auch für uns, die wir nichts verbinden mit der Christusgestalt – und doch geht etwas von der Andacht, der Ergriffenheit der Menschen auf uns über. Die Frauen neben uns beten, bekreuzigen sich, verfolgen mit Tränen in den Augen wie die Figur langsam in alle Richtungen gedreht und der Menschenmenge gezeigt wird, bis der Herr der Erdbeben langsam wieder im Vorraum der Kathedrale verschwindet.
Wir wissen nicht, was als nächstes geschehen wird, sehen nur, dass die Menschen sich entlang der Straßen verteilen, in dichten Reihen, viele mit kleinen geflochtenen, mit Blumen geschmückten Kreuzen in der Hand. Wir sind trotz des Schirms nass, es ist kalt und so suchen wir uns ein kleines Café in der Nähe der Plaza, wärmen uns mit heißer Schokolade und Tee – und können vom Fenster im ersten Stock miterleben, wie die Christusstatue wieder erscheint, zu ihrem Schutz in einen langen Plastikumhang gehüllt und von vielen tausenden Menschen begleitet durch die Straßen getragen wird. Als die Sonne wieder zum Vorschein kommt, wird der Plastikumhang abgenommen. Der Klang der Muschelhörner, Gesänge und Weihrauchgeruch liegen noch lange über den engen Straßen der Altstadt.
Unser Campingplatz liegt hoch über Cusco. Zu Fuß sind wir schnell unten in der Stadt und es ist ein Vergnügen, die vielen blumengeschmückten Treppen durch die steilen Gassen des malerischen Künstler- und Kunsthandwerkerviertels San Blas hinabzusteigen. Zurück nehmen wir, beladen mit Taschen voller Obst und Gemüse vom Markt, lieber eines der zahllosen Taxis. Oder wir bleiben direkt in der Stadt und genießen es, entweder auf dem Markt oder einem der vielen kleinen Restaurants köstlich bekocht zu werden.
Direkt hinter dem Campingplatz beginnt, zu Joschis großer Freude, ein Wald und so gehören endlich wieder einmal ausgedehnte Spaziergänge zwischen den Eukalyptusbäumen und bis zu einem kleinen Wasserfall zu unserem Tagesablauf. Und wir begegnen bekannten Gesichtern: Chris und Angi, die uns am Titicacasee aus dem tiefen Kies gezogen haben, sind ebenfalls hier. Es ist schön, sie hier noch einmal zu treffen, bevor sie für einige Monate zurück in die Schweiz fliegen. Wir genießen den ruhigen, grünen Platz, den großen Aufenthaltsraum, die heiße Dusche, kommen mit einer französischen Reisefamilie mit zwei kleinen Töchtern ins Gespräch, die von Nord nach Süd fahren und tauschen mit ihnen viele hilfreiche Tipps und Empfehlungen für die weiteren Reiserouten aus.
Wir alle würden gerne noch länger bleiben, Stadt und Campingplatz genießen, doch Machu Picchu begrenzt unsere Zeit. Für den Besuch der Inkastadt gibt nur noch wenige Tickets für die letzten Märztage und dann erst wieder für Ende April. So lange wollen wir nicht warten und so buchen wir Tickets für 14 Uhr am Ostersonntag. Der Zutritt zu Machu Picchu ist, ganz anders als noch vor wenigen Jahren, streng und effizient geregelt und organisiert.
Für den Weg dorthin entscheiden wir uns gegen die Hauptroute, fahren also nicht mit dem Zug von Cusco nach Aquas Calientes, dem Städtchen am Fuß des Berges, sondern mit unserem Bus nach Hidroelectrica, einem Wasserkraftwerk, 10 km von Aquas Calientes entfernt. Es sind nur gut 200 km dorthin, und dennoch brauchen wir einen ganzen Tag dafür. Die letzten Kilometer sind nicht asphaltiert, Erdrutsche, Überflutungen, Baustellen und ein großes Tunnelprojekt, finanziert von chinesischen Investoren, machen die Straße zu einer abenteuerlichen Strecke. Und doch ist sie wunderschön – sie führt uns mitten hinein in die dunkelgrün bewachsenen Berge, in die üppige Vegetation, mitten hinein in den Regenwald.
Schließlich erreichen wir den großen Wiesenplatz der Familie Escobar neben dem Wasserkraftwerk. Hier verbringen wir die Nacht und hier können wir den Bus während unseres Ausflugs nach Machu Picchu stehen lassen.
Am Ostersonntag stehen Jan und ich früh auf, packen die Rucksäcke fertig, bemalen die hartgekochten Eier unseres Proviants, legen die einzigen in Cusco auffindbaren Schokoladeneier auf die Teller der Jungs und wecken sie – für ihr Empfinden viel zu früh-, doch uns erwartet ein langer und ereignisreicher Tag. Um 8 Uhr verlassen wir den Platz und wandern, begleitet von einer kleinen Meute freundlicher Hunde, in Richtung der Bahngleise. Auch von Hidroelectrica aus fährt normalerweise ein Zug nach Aquas Calientes, doch nicht zurzeit. Ein gewaltiger Erdrutsch und heftige Überschwemmungen haben vor einigen Wochen die Gleise unterspült und aus ihrem Bett gerissen – nicht schlimm für uns, hatten wir doch von Anfang an geplant, den Weg zu wandern, immer entlang der Bahnstrecke und nun ohne vorbeiratternde Touristenzüge.
Zu Beginn säumen kleine Buden und Restaurants die Gleise, verkaufen Frauen Snacks und Wasser für die Wanderung. Ein kurzes steiles Stück zwischen Bananenpalmen und Avocadobäumen hindurch führt uns auf den Weg zwischen Schienen und Fluss. Die Hunde folgen uns unbeirrt und schließlich weicht Joschis Irritation darüber sogar einem unerwiderten Interesse für das Hundemädchen. Wir genießen die fröhliche Gesellschaft eine weite Strecke lang, bis sich die Meute einer Gruppe Wanderer anschließt, die schneller unterwegs ist als wir.
Der Weg durch den Regenwald ist ein besonderes Erlebnis. Schmal schlängelt er sich durch Grün in allen Facetten, führt uns über kleine Bäche mit wackeligen Brücken, zwischen Bäumen, Büschen, Kakteen, Schlingpflanzen und Blumen in allen Farben, Formen und Größen hindurch. Wir erkennen Physalis, Kaffee, Avocados, Bananen, Orangen, Strelitzien und Orchideen, werden von Hunderten von Schmetterlingen, von handtellergroß bis ganz klein und intensiv leuchtend umschwärmt und sind begleitet von unablässigen vielstimmigen Vogelrufen. Als wir einer Wanderergruppe begegnen, die am Wegesrand steht und aufgeregt in die Bäume schaut, halten auch wir inne. Und entdecken einen ganz besonderen Vogel. Er ist scheu und doch im dichten Grün ganz besonders gut zu sehen. Sein intensiv leuchtend hellrotes Gefieder und der viel zu groß wirkende Kamm auf dem Köpfchen machen ihn unverkennbar. Wir haben einen Andenhahn entdeckt, den Nationalvogel Perus.
Ein paar Kilometern später sehen wir die Folgen des Unwetters: herausgerissene, verbogene Bahnschienen, das fortgespülte Gleisbett und daneben bereits die großen Arbeitsfahrzeuge und bereitliegenden neuen Bohlen. Gearbeitet wird heute jedoch nicht. Im Gegensatz zu sonstigen Sonntagen steht heute, am Ostersonntag, alles still.
Kurz vor dem Ende des Weges erreichen wir den kleinen Kiosk von Nayruth. Sie bietet an, in einem kleinen Raum Gepäck und auch Hunde „aufzubewahren“. Hier wird Joschi bleiben, während wir Machu Picchu besichtigen. Er ist wenig begeistert, als wir die Türe von außen schließen, doch wir sind sicher, dass er, nach der für ihn langen Wanderung, den größten Teil des Nachmittags verschlafen wird. Unterstützt von einem kleinen Zuckerschub Dank Nayruths Bananenkuchen und Schokomuffins, erreichen wir kurze Zeit später das Ende des Weges. Nun müssen wir entscheiden, ob wir den Aufstieg zu Machu Picchu, 1700 steile Stufen, zu Fuß in Angriff nehmen, oder weitere knapp zwei Kilometer nach Aquas Calientes wandern, um von dort aus mit dem Shuttlebus zu fahren.
Wir haben noch zweieinhalb Stunden Zeit bis zu unserem Einlass, wollen wir den Berg über die Treppen erklimmen, müssen wir uns unmittelbar an den Aufstieg machen. Doch die Energie ist nach dem frühen Aufstehen und unserer Wanderung auf einem Tiefpunkt und so entscheiden wir uns gegen den Aufstieg und für eine Pause und mehr übrige Energie für die Besichtigung der Inkastadt.
Vor wenigen Jahrzehnten war Aquas Calientes vermutlich noch ein verschlafenes Bergdörfchen. Heute ist es Zentrum der touristischen Infrastruktur im Schatten des Machu Picchu. Doch trotz der sich nahtlos aneinanderreihenden Cafés, Hotels, Souvenirshops und Touranbieter ist das Städtchen hübsch. Es liegt steil am Berg, ein wilder, rauschender Fluss, von vielen Brücken überspannt, zieht sich mitten hindurch.
Als wir unsere Bustickets erstanden und noch eine Stunde Zeit bis zur Abfahrt haben, machen wir es uns auf der Flussmauer bequem, ruhen aus und vertilgen unsere Ostereier.
Und dann sitzen wir endlich im Bus, hinauf nach Machu Picchu. Durch enge Kurven schraubt er sich steil den Berg hinauf. Es liegt Spannung in der Luft, aufgeregte Erwartung und alle Blicke wenden sich zum Fenster, als wir einen ersten Blick auf die Mauern der alten Inkastadt werfen können.
Keiner weiß mit absoluter Sicherheit, wozu diese abgeschieden in den Bergen liegende Stadt diente. Sicher scheint, dass der Machu Picchu, der „alte Gipfel“, ein bedeutendes heiliges Zentrum der Inka war, gut versteckt errichtet an einem strategisch wichtigen Ort. Dank der terrassenförmigen Anbauflächen und der Wasserversorgung war den Bewohnern ein autarkes Leben möglich. Sicher ist auch, dass die Inka die Stadt in den Bergen schon vor der Eroberung durch die Spanier verlassen hatten. Nachdem mit der Hinrichtung Tupac Amarus 1572 der letzte Widerstand der Inka gebrochen wurde, bewahrten nur wenige Campesinos das Wissen um die Stadt. Erst 1911 entdeckte der amerikanische Geschichtsprofessor Hiram Bingham eher zufällig die vollständig überwucherte Inkastätte. Er richtete Expeditionen aus, gab vor, die Stadt vollständig geplündert vorgefunden zu haben – ob das der Wahrheit entspricht, ist umstritten. Sicher ist, dass keinerlei Kupfer- Silber- oder Bronzeschätze, die aus Machu Picchu stammen könnten, in peruanischen Museen zu finden sind.
Oben angekommen suchen wir unseren Eingang und die vorgegebene Route, die wir unserem Ticket gemäß gehen dürfen – und stehen schon wenige Schritte später staunend vor den gewaltigen, sich den ganzen Berg hinaufziehenden Terrassen. Entlang des Randes stehen kleine Häuschen aus grauen Steinblöcken, uns gegenüber erhebt sich einer der kegelförmigen, bis in die Spitze dunkelgrün bewachsenen Berge, zu seinen Füßen die Überreste weiterer Häuser, nahtlos gefügte Mauern, Straßen und Treppen der ehemaligen Stadt und hoch oben, dem Gipfel ganz nah, weitere Terrassen und Bauwerke.
Es ist ein beeindruckender Anblick – eine ganze Stadt umringt von Bergen mit dennoch weiter Sicht, in der Mitte zwischen wolkenverhüllten Gipfeln und tief im Tal mäanderndem Fluss. Weit entfernt von allen anderen Ansiedlungen, nah dem Himmel. Ein Ausblick und Anblick, der Ehrfurcht gebietet und eine Ahnung davon aufkommen lässt, warum dies ein guter Ort für eine heilige Stätte gewesen sein mag.
Wir erkunden den uns vorgegebenen Weg, gehen ohne Guide in unserem eigenen Tempo, genießen es, dass, entgegen unserer Erwartung, vergleichsweise wenige Touristen mit uns hier sind, wir immer wieder Bereiche für uns allein haben und so lange vor dem Sonnentempel verweilen können, wie wir möchten. Gegen Ende unseres Rundganges reißen die Wolken auf, geben den Blick auf die Gipfel frei und die Sonne lässt die Wiesen zwischen den grauen Mauern aufleuchten. Machu Picchu ist kein Ort, der uns überwältigt, doch wir spüren eine rätselhafte Faszination, die uns lange schauend, staunend und bewundernd verweilen lässt. Vielleicht kann dieser Ort seinen Zauber, seine ganze Faszination und Schönheit nur in mehr Stille und Einsamkeit offenbaren, wer weiß.
Dann tauchen wir wieder ein in den Trubel Aquas Calientes. Beziehen unsere Hotelzimmer, genießen köstliches peruanisches Essen, fruchtig-leckere Cocktails und haben Spaß bei viele Runden Yenga, bis wir uns nach diesem langen Tag müde aber glücklich früh in unsere Betten verkriechen.
Am nächsten Morgen wandern wir zurück zum Bus, verbringen den restlichen Tag mit Erholung und Nichtstun – um dann weiter auf östlicher Seite der Anden Richtung Norden zu fahren, tiefer hinein in den Regenwald.
Drei mühsame Tage später ändern wir diesen Plan wieder.
Nur gut 500km sind wir in drei langen zähen Fahrtagen vorangekommen. Eine kleine Straße durch den Dschungel, Kurven, die sich nahtlos aneinanderreihen, Schlaglöcherketten, die ein Umfahren unmöglich machen, eine nur einspurige Fahrbahn, die bei Gegenverkehr rechtzeitiges Bremsen und schwierige Ausweichmanöver erfordert, Hunde die unerwartet aus den Büschen auftauchen, Flüsse, die in tiefen Senken über die Straße fließen, heruntergebrochene Straßenränder, weggespülte Leitplanken. Das ist unser Weg. Rechts und links davon jedoch Bananen- und Avocadoplantagen, Kakaobäume und Kaffeesträucher, Papayabäume und Kokospalmen. Die Luft ist feucht und warm und gesättigt mit einem intensiven Duft nach Süße, Fäulnis und Nässe. Wolken hängen tief in den Bergen, meterhohe Kokospalmen recken ihre schwerbehangenen Kronen weit über das wild wuchernde Grün hinaus und über allem liegt das beständige monotone Zirpen der Zikaden. In den kleinen Orten werden rote, gelbe und grüne Bananenstauden neben Bergen von Kokosnüssen zum Verkauf angeboten, an den Straßenrändern trocknen Kakaobohnen und Kokablätter in der Sonne.
Es ist faszinierend schön, doch das langsame Vorankommen, das mühsame Fahren zehren an unserer Geduld und unseren Nerven. Das erste Mal hat Jan keinen Spaß mehr am Fahren und empfindet es als einfach nur anstrengend. Oft finden wir erst spät, kurz bevor es dunkel wird, einen guten Platz für die Nacht. Einmal lädt uns Fortunado Puma, der Mechaniker von Koribeni ein, direkt neben der Brücke am Straßenrand gegenüber seiner Werkstatt zu übernachten, das sei alles sein Land. Er schenkt uns eine Handvoll Bananen aus seinem Garten und erklärt beschwingt von ein paar Flaschen Chicha, dass wir ihn ja ebenso beschenken könnten, wenn er unser Land besucht. Ein anderes Mal verbringen wir die Nacht fern jeden Dorfes auf dem Platz neben dem kleinen Häuschen einer Familie. Nach anfänglich skeptischen Blicken holt der Hausherr seinen halbwüchsigen Sohn, der unsere Worte übersetzen soll. Da erst merken wir, dass er selbst nur Quechua spricht. Nachdem er unsere Bitte um einen Platz für die Nacht verstanden hat, bekommen wir auch hier zur Begrüßung ein paar Mandarinen geschenkt und dürfen bleiben. So nah am Äquator wird es früh und schlagartig dunkel – wir haben Licht im Bus, die Familie behilft sich mit Taschenlampen. Strom und fließendes Wasser gibt es hier noch nicht.
Die weitere Strecke führt uns durch arme Landstriche und manch einer versucht, sich auf ungewöhnlichen Wegen ein paar Soles hinzuzuverdienen. Schon von weitem sehen wir die Männer, die sich am Straßenrand und in der Fahrbahnmitte positioniert haben, neben sich ein großes Plakat, das sie als selbstorganisierte Verteidiger der Sicherheit ausweist. Damit wir ihr Ansinnen auch ja richtig verstehen, wedeln sie mit ein paar Solesscheinen vor dem Fenster herum und lassen uns jedoch ungestört weiterfahren, nachdem wir einen kleinen Betrag bezahlt haben.
Ein paar Kilometer weiter haben sich ein paar Kinder die Männer zum Vorbild genommen und in kurzen Abständen Holzstücke auf die Fahrbahn gelegt in der Hoffnung, ein bisschen Geld für die Freigabe des Weges kassieren zu können.
Andere Kinder stehen mit Schaufeln in den Händen am Fahrbahnrand und bemühen sich, die tiefen Schlaglöcher zuzuschaufeln. Auch sie erhoffen sich ein paar Soles zum Dank. Es berührt mich sehr, diese kleine Gruppe von Kindern zu sehen. Wir reichen ihnen eine Münze und wissen zugleich, dass dies ihre Lebensumstände kein bisschen verändern wird. Und dennoch strahlt das kleine, vielleicht 5 Jahre alte Mädchen vor Stolz und Freude als sie den anderen Kindern ihr Zwei-Soles-Stück wie einen Schatz zeigt.
Nach vier langen Tagen erreichen wir schließlich Ayacucho. Schon unterwegs haben wir entschieden, von hier aus nicht weiter in Richtung Oxapampa zu fahren, einem mitten im Urwald gelegenen, von deutschen und österreichischen Auswanderern gegründeten Ort, sondern wieder über die Andenkette in Richtung Pazifik, in Richtung Panamericana und damit in Richtung eines weniger mühsamen Vorankommens.
In Ayacucho navigieren wir durch das Innenstadtdurcheinander und ganze Schwärme von hupenden Tuktuks, suchen vergeblich einen Parkplatz in der Nähe des Marktes, gehen zu Fuß, finden später noch einen Supermarkt, essen in einem mit entsetzlich lauter Musik beschallten Foodcourt zu Mittag, geben unsere gesammelten 21 kg Wäsche in der Wäscherei ab, bleiben auf dem Weg zum Campingplatz fast in einer steilen, engen Straße vor einer Baustelle stecken, fahren schließlich in großem Bogen um die halbe Stadt bis wir, ziemlich erledigt, die Rancho D’Bruno, unseren Campingplatz, erreichen.
Hier machen wir einen Pausentag. Wir lesen, schlafen aus, planen neu, machen Schule, schmieren den Bus, holen die Wäsche ab, bürsten Joschi, flicken das Moskitonetz, kochen, befestigen den Auspuff neu, gehen duschen, schreiben Emails, telefonieren mit Freunden, atmen durch…
Einen Tag später erreichen wir über eine fantastisch schöne Strecke und einen langen, fast 5000m hohen Pass wieder die westliche Seite der Anden. Farbig marmorierte Felsen ragen zu beiden Seiten in die Höhe, große Bromelien mit meterhoch aufragenden Blütenständen stehen wie strubbelköpfige Riesengnome am Wegesrand, Alpakaherden kreuzen die Straße und in tiefen Schluchten rauschen wilde Gebirgsbäche. Doch dann verschluckt uns eine große Wolke und gibt die Sicht erst nach vielen Kilometern und hunderte Höhenmeter tiefer wieder frei. Noch einen Zwischenstopp brauchen wir auf dem Weg zum Pazifik. Am Platz neben dem Fluss findet uns am nächsten Morgen eine alte Frau mit langen geflochtenen Zöpfen, lässt sich interessiert von unserem Woher und Wohin erzählen, legt uns nahe, doch im Restaurant ihrer Familie bei Kilometer 93 zu frühstücken und wartet – wohl vergeblich – auf die Sonnenfinsternis, von der sie im Fernsehen gehört hat.
Und nun sitze ich auf dem Dach unseres Busses zwischen zwei Kokospalmen, habe freie Sicht auf den Pazifik, der nur 20m weiter an den Strand brandet und kann die vielen Surfer beobachten, die hier die Wellen reiten. Bunte Sonnenschirme verteilen sich entlang der kleinen Bucht, immer wieder bleiben interessierte Passanten vor dem Bus stehen und wir kommen miteinander ins Gespräch. Es liegt eine freundliche, entspannte Stimmung über Cerro Azul. Jan, Luis und Hannes erholen sich von ihrem Surfkurs, Mattis vom Bau seines Salzwasserbrunnens. Und als der Himmel sich im Abendlicht rosa färbt und der Sichelmond schon hoch am Himmel steht, kommt spielend und springend eine Schule Delphine in die Bucht und leistet den letzten Surfern Gesellschaft.
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