Zwei Stunden lang sind wir mit unserem Guide Sebastian, einem Musikstudenten, der zwei Jahre in Köln gelebt hat, in der Comuna 13 unterwegs. Was er uns über die Geschichte dieses Stadtteils von Medellín und das Leben der Menschen hier, über das Ausmaß an täglicher Gefahr und Gewalt, dem sie ausgesetzt waren, erzählt, ist schockierend und kaum vorstellbar. Und es ist schwer, es übereinzubringen mit dem, was uns heute hier umgibt: wir stehen gemeinsam mit vielen anderen TouristInnen inmitten bunt bemalter Häuser, Cafés und Galerien, zwischen Straßenkünstlern und Souvenirverkäuferinnen.
Ein paar Straßenzüge im Zentrum der Comuna 13 sind zu einer vielbesuchten Touristenattraktion geworden.
Vor wenigen Jahrzehnten war dies noch völlig unvorstellbar.
Die Comuna 13, einer der 16 Stadtbezirke Medellíns, die die insgesamt 250 Stadtviertel zusammenfassen, ist einer der ärmsten und am dichtesten besiedelten. 200 000 Menschen leben hier auf engstem Raum, in kleinen, oft selbstgebauten Häusern, die sich entlang schmaler Fußwege steil an den westlichen Hängen Medellíns hinaufziehen. Gewaltsame Konflikte um die Verteilung der ländlichen Gebiete zwangen in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts viele Bauern und Bäuerinnen mit ihren Familien zur Flucht in die Städte. Mit nichts als ihrem in der Stadt wenig hilfreichen Wissen über Landwirtschaft kamen sie nach Medellín, gründeten illegale Siedlungen an den steilen Hängen jenseits des Stadtzentrums, bauten notdürftige Häuser aus Ziegelsteinen, Blech und ein bisschen Zement. Damals wie auch heute noch gilt: je ärmer die Bewohner, desto weiter oben, desto weiter entfernt vom Stadtzentrum leben sie.
Bis in die 1980 Jahre litt ganz Kolumbien, Medellín und ganz besonders die Comuna 13 unter den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften, rechten Paramilitärs und der linken FARC-Guerilla. Ein Konflikt, dessen Wurzeln zurück bis in die Zeit der Kolonialisierung reichen. Das Medellín Kartell Pablo Escobars überzog das Land mit Terror und die Comuna 13 wurde aufgrund ihrer für den Drogen- und Waffenhandel günstigen Lage zu einem Zentrum der Gewalt. Die Guerilla übernahm die Kontrolle, fungierte als gnadenloser und brutaler Richter in Streitigkeiten, entschied darüber, wer leben durfte und wer sterben musste. Die verarmten und perspektivlose Bewohner der Comuna 13 wurden nach dem Prinzip „plata o plomo“, Silber oder Blei, gefügig gemacht. Unsichtbare Grenzen zogen sich durch die Comuna 13, die ungefragt und oft auch ungestraft niemand überqueren durfte. Die Zahl der Ermordungen in Medellín stieg auf Tausende Opfer jährlich. Aus dieser Zeit, mit bis zu 7000 Toten pro Jahr, stammt der Ruf der 2,6 Millionen Metropole als gefährlichste Stadt der Welt mit der Comuna 13 als Epizentrum.
Nach dem Tod Pablo Escobars und der Zerschlagung des Medellín Kartells 1993 schlossen sich viele der nun arbeitslosen Auftragskiller Escobars den Paramilitärs an und bekämpften jahrelang brutal die linke Stadtguerilla.
Im Mai 2002 ordnete Präsident Uribe die Militäroperation Mariscal zur Befriedung der Comuna 13 an, einer von 17 Militäreinsätzen. Zwei Kinder, Brüder, wurden durch Querschläger verletzt, woraufhin ihre verzweifelte Mutter ein weißes Bettlaken aus dem Fenster hängte, sich den Kämpfern entgegenstellte und todesmutig forderte, ihre Kinder ins Krankenhaus bringen zu dürfen. Andere Bewohner schlossen sich ihr an und konnten damit ein Ende der Operacion Mariscal erreichen. Ein großes Mural, ein Wandgemälde, erinnert heute an die mutige Mutter.
Im Oktober 2002 versetzte die letzte Militäroperation in der Comuna 13, die Operacion Orion, das Viertel vier Tage lang in einen Ausnahmezustand. Black Hawk Hubschrauber kreisten über den Häusen, Panzer rollten durch die engen Straßen und über 1500 Soldaten, unterstützt von vermummten Informanten der Paramilitärs, zogen durch das Viertel mit dem Ziel, die Herrschaft der Guerilla endgültig zu beenden. Tage brutaler Gewalt für die Bewohner der Comuna, die mit vielen unbeteiligten Toten, gezielten Ermordungen, zahlreichen Festnahmen und dem ungeklärten Verschwinden vieler Menschen einherging. Noch heute ist nicht endgültig aufgeklärt, was mit den Verschwundenen geschah, viele von ihnen werden jedoch vergraben auf der Bauschuttdeponie La Escombrera, in Sichtweite der Comuna 13, vermutet.
Mit dem Ende der Operacion Orion übernahmen Paramilitärs die Kontrolle über die Comuna 13 und damit auch über die Wege des Waffen- und Drogenhandels.
Seitdem die Paramilitärs 2004 demobilisiert wurden, herrscht relativer Friede in Medellín.
Unverändert blieb die Comuna 13 jedoch ein schwer zugänglicher, von den sozialen und kulturellen Angeboten der Stadt weitgehend abgeschnittener, armer Stadtteil und damit ein gutes Pflaster für die weiterhin aktiven kriminellen, gewalttätigen Banden, um Nachwuchs anzuwerben.
In einer gemeinsamen Anstrengung von Stadtverwaltung und Zivilbevölkerung wurden deshalb seit 2006 enorme Summen und Kreativität investiert, um einen Wandel herbeizuführen.
Nur deshalb können wir heute unbesorgt zumindest in einem kleinen Teil der Comuna 13 unterwegs sein. Mitten durch diesen für Touristen zugänglichen Bereich zieht sich eines der innovativsten Projekte der Stadt: die weltweit erste Rolltreppe unter freiem Himmel. Ihre Bedeutung kann nur verstehen, wer die schmalen, steilen Gassen, die vielen krummen Stufen den Berg hinauf bis zu den ärmsten Häusern ganz oben gesehen hat. 350 steile Treppenstufen mussten die Menschen zu Fuß bewältigen, wollten sie in die Stadt hinunter. Für viele ein unüberwindbares Hindernis. Heute ist die Strecke mit der Rolltreppe in wenigen Minuten zu überwinden – und zu einer Touristenattraktion geworden, entlang derer sich Souvenirstände, Galerien und Cafés drängen.
Die Rolltreppe war nur eines von vielen Projekten – zwei CableMetro Stationen wurden errichtet, die ebenfalls eine rasche Verbindung in die Stadt und damit mehr soziale Teilhabe und Arbeitsmöglichkeiten für die Menschen aus den hochgelegenen Bezirken eröffneten, die modernsten Bibliotheken und Sportstätten liegen heute in der Gegend, Begegnungs- und Kulturzentren, es gibt zahlreiche kostenlose Angebote für die Kinder und Jugendlichen des Viertels. Alles dient dem Ziel, ihnen eine Perspektive zu geben und den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Wir schauen einer der Hiphop Tanzgruppen bei einer kleinen Vorführung zu – Sebastian erzählt, dass viele der Jugendlichen nicht regelmäßig zur Schule gehen, sie im Tanz, der Musik oder beim Sport aber eine Perspektive finden und einen Zusammenhalt mit anderen, die sie davon abhalten, sich einer der immer noch aktiven kriminellen Banden anzuschließen.
Künstler aus der ganzen Welt kommen in die Comuna 13, um mit ihren „Murales“, den großen, ausdrucksstarken Wandbildern, der Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft Ausdruck zu verleihen, den Kampf und das Leid der Menschen hier zu würdigen und an die Opfer zu erinnern.
Sebastian führt uns über einen Sportplatz, Kinder spielen Fußball und drehen ihre Runden auf dem Fahrrad. Ringsumher steigen die Gassen steil bergan, aus den Häusern ist der Blick frei direkt hinunter auf den Platz. Es scheint ein freundlicher, friedlicher Ort zu sein. Doch er hat eine grausame Geschichte und es wird uns schwer, den Platz zu überqueren, nachdem wir sie gehört haben. Dies war der Ort, an dem die Guerilla Menschen öffentlich demütigte, folterte und tötete. Im Zentrum der Comuna, so, dass alle Menschen in den umliegenden Häusern gezwungen waren, es mitzuerleben.
Die Kluft zwischen diesem Wissen und dem lauten Gedränge der Touristen, Souvenirhändler und Straßenkünstler ein paar Meter weiter scheint plötzlich unüberwindbar.
Und doch ist dieses bunte laute Treiben ein Zeichen des Wandels, ein Stück weit erfüllte Sehnsucht nach einem Neubeginn, nach einem Leben in diesem Viertel ohne Gewalt.
Sebastian spricht von einer inneren Haltung der BewohnerInnen, ihrer Ausrichtung darauf, nicht in ihrem Schmerz und alten Feindschaften zu verharren, sondern mit Kreativität und Zuversicht die Zukunft zu gestalten, ohne die Opfer und ihre Geschichte zu vergessen. Er nennt diese Haltung „reif“. Ein besonders berührendes Beispiel für diese Reife zeigt Sebastian uns ein Stück weiter oben am Hang. Hier wurde ein autistisches Kind von einer verirrten Kugel getroffen und getötet. Seine liebste Beschäftigung war es, mit großer Freude eine kleine Plastikrutsche immer und immer wieder hinunterzurutschen. Als Erinnerung an dieses Kind und als Mahnung, diese Freude, das Kindliche in jedem Menschen auch unter schlimmsten Bedingungen lebendig zu halten, hat seine Familie zwei weitere Rutschen neben der ursprünglichen erbauen lassen. Für alle Menschen, die hier vorbeikommen.
Es ist sehr bewegend und beeindruckend, Sebastians Schilderungen zu lauschen und für uns kaum vorstellbar, woraus die Menschen, von denen er uns berichtet, angesichts ihrer zutiefst traumatischen Erlebnisse die Kraft für eine solche Haltung der Hoffnung und Zuversicht schöpfen.
Für einen kleinen Teil der Bewohner der Comuna 13 hat die Kommerzialisierung des Wandels, die Öffnung für den Tourismus, viele Verbesserungen gebracht: Einkommen, Arbeit, Perspektiven – für viele andere hat sich wenig geändert. Jenseits der unsichtbaren Grenzen rund um den touristischen Teil der Comuna 13 leben die Menschen weiterhin in Armut, haben weiterhin Bandenchefs das Sagen, kassieren Schutzgelder und hierher sollte sich auch weiterhin kein Tourist ohne deren Einverständnis wagen.
Für uns bleibt die Frage, ob es richtig ist, einen Ort zu besuchen, der durch schlimmste Gewalt, Straßenkrieg und bis heute nicht ausreichend aufgeklärte Menschenrechtsverletzungen bekannt wurde. Doch Sebastian legt, wie wohl viele Menschen hier, den Fokus auf den Wandel, auf all das, was entstanden ist, auf die Stärke und hoffnungsvolle Zukunftsausrichtung der BewohnerInnen. Er spricht voller Anerkennung, Leidenschaft und Wärme von ihnen, von seiner Heimatstadt Medellín und seinem Land. Und vielleicht ist diese Kraft der Veränderung, die eigentliche Attraktion der Comuna 13.
Am nächsten Tag machen wir uns auf eigene Faust auf ins Zentrum von Medellín. Unser Taxifahrer setzt uns an der Plaza Botero ab, im Herzen der Stadt. Hier stehen im Schatten des beeindruckenden schwarz-weißen Kulturpalastes über den weiten Platz verteilt viele der großen, fülligen Tier- und Menschenfiguren des berühmtesten Künstlers Kolumbiens, dem in Medellín geborenen Fernando Botero.
Wir gehen über den Platz, bestaunen die in jeder Hinsicht überdimensionalen Skulpturen, schlendern durch die für alle frei zugängliche Kunstausstellung im Kulturpalast und genießen von seinem Dach aus den fantastischen Blick über die Stadt.
Doch als wir die Plaza verlassen, zeigt uns Medellín nur ein paar Straßenzüge weiter sein raues, ungeschminktes Gesicht. Hier sind keine Touristen mehr unterwegs, die Häuser sind unrenoviert, die Läden billig, Müll sammelt sich in den Straßengräben, Obdachlose liegen wie bewusstlos, verwahrlost, oft kaum bekleidet und völlig schutzlos im Schatten der großen Bäume und auf den schmalen Grünstreifen entlang der Straßen und wir bekommen eine Ahnung davon, wie hart, kompromiss- und perspektivlos das Leben hier sein kann.
Nur wenige Schritte zurück sind wir wieder mitten im bunten Trubel der Fußgängerzone. In keiner anderen Stadt haben wir die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten bisher auf so engem Raum, in so krassem Kontrast miteinander erlebt.
Auf unserem Weg zurück zur Plaza Botero treffen wir auf eine weitere Skulptur des Künstlers, einen üppigen Vogel mit zerfetztem Bauch und Schwanz. Mitglieder der FARC-Guerilla hatten 1995 eine Bombe unter ihm versteckt, die während eines Musikfestivals explodierte. 30 Menschen starben, viele mehr wurden verletzt. Die Stadtverwaltung wollte den zerstörten Vogel entfernen, doch Botero selbst setzte durch, dass der zerstörte Vogel als Mahnmal stehen blieb und stellte einen neuen, unversehrten Vogel direkt daneben.
Um viele Eindrücke und viel Wissen um die Geschichte der Stadt reicher verlassen wir Medellín nach drei intensiven Tagen wieder. Die Worte, mit denen Sebastian uns verabschiedet hat begleiten uns: „Ihr seid Botschafter Kolumbiens, ihr habt gesehen und erlebt, dass Kolumbien trotz aller Schwierigkeiten ein wunderschönes, gastfreundliches und sicheres Reiseland ist. Bitte sagt es weiter.“
Das tun wir gerne und aus ganzem Herzen.
Und wenn ihr hören wollt, womit Sebastian sich beschäftigt, wenn er nicht gerade Touristen durch die Stadt führt, dann lauscht einmal hier hinein: Spotify-LINK
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