Miteinander



Ein Guten-Morgen-Gruß, der sich je nach Wetterlage ändert, eine eigene Gesetzgebung, eine über Jahrhunderte hinweg nur mündlich überlieferte Sprache, die jederzeit mögliche Verpflichtung jedes Stammesangehörigen, in seinem Heimatort für ein Jahr im Dienst der Gemeinschaft zu arbeiten, eigene Kindergärten und Schulen, ein Gesetz, das Polizei und Militär den Zutritt zu ihren Gebieten nur mit Genehmigung der Ältesten erlaubt, ein eigenes, traditionell-naturheilkundliches Krankenhaus, leuchtendblaue Röcke sowohl für Männer als auch für Frauen und Hüte, die symbolisch das Leben jedes Einzelnen im Einklang mit dem ganzen Universum zum Ausdruck bringen.

All dies ist Teil der lebendigen Kultur der Misaq, einer der über hundert kolumbianischen indigenen Gemeinschaften, die verstreut in kleinen Siedlungen rund um den Ort Silvia herum im Süden Kolumbiens leben.

Jeden Dienstag brechen sie frühmorgens auf, packen zusammen, was sie anzubieten haben, und fahren oft über viele Stunden dicht gedrängt in den bunt bemalten Chivas nach Silvia, um auf dem Markt Handel zu treiben.

Hier verkaufen sie die Erzeugnisse der vergangenen Woche und versorgen sich mit allem Nötigen für die kommende. Doch der Markttag ist viel mehr als nur Austausch von Waren für die Misaq. Es ist auch der wöchentliche Treffpunkt, um Neuigkeiten zu erfahren, Informationen weiterzugeben, sich zu begegnen und Kontakte zu pflegen und auch die Gelegenheit, den Schamanen zu treffen, der sich mit seinen Heilmitteln, Amuletten und seiner Weisheit um Fragen und Erkrankungen aller Art kümmert.

In der Markthalle ist es laut und voll, die Händlerinnen und Händler sitzen in ihren blau-weiß-schwarz-violetten Trachten, den flachen Hut auf dem Rücken hängend, dicke Stiefel unter den Röcken, hinter ihren Ständen und bieten die unterschiedlichsten frischen Blattgemüse, Erdbeeren, Physalis, Kräuter, Fleisch, Schafsköpfe und Kartoffeln in allen Farben und Größen an, außerdem Panela, die dicken Blöcke aus purem, kristallinen Zuckerrohrsaft, Macheten, Getreide und heilsame Kräutermischungen. Es gibt so viel zu sehen, zu hören und zu riechen, dass wir uns kaum auf unsere Einkäufe konzentrieren können. Zum Glück sind wir mit Kika hier, die uns durch die Gänge lotst, uns verrät, wo es die besten Physalis und Rübchen zu kaufen gibt und uns mit süßem Arroz de leche, gewürzt mit Zimt und Anis und mit knusprig kandierter Kokosnuss versorgt. Mit ihr sitzen wir nach dem Marktbesuch im Café und erfahren vom Leben der Misaq. Kika lebt seit 7 Jahren hier, sie hat Freunde unter den Misaq und hatte die Ehre, Gast auf einer traditionellen Hochzeit zu sein. Ein Fest mit über tausend Menschen, so erzählt sie, bei dem sie den großen Zusammenhalt innerhalb der indigenen Gemeinschaft erleben konnte. Das Fest wird von allen gemeinsam ausgerichtet, sodass gut für alle Gäste gesorgt ist, zugleich aber die Familien der Heiratenden nicht über ihre Möglichkeiten hinaus belastet werden. Ebenso zeigt sich der Zusammenhalt, wenn zum Beispiel ein Haus gebaut werden soll. Selbstverständlich finden sich alle, die etwas dazu beitragen können zusammen, arbeiten gemeinsam und jeder kann sich darauf verlassen, genauso unterstützt zu werden, wenn es notwendig ist. In langen Kämpfen haben die Misaq erreicht, in relativ autonomen Gebieten nach ihren Traditionen und Gesetzen und mit ihrer eigenen Rechtsprechung leben zu dürfen. Und dennoch sind die Indigenen noch immer in weit höherem Maße von Diskriminierung, Vertreibung und Gewalt betroffen als die übrige Bevölkerung.

Beeindruckt und erfüllt von allem Gesehenen und Gehörten und um zwei von Mattis schon lange ersehnte Macheten reicher, verlassen wir Silvia und kehren mit Kika auf die Finca La Bonanza zurück.

Hier sind wir gemeinsam mit drei französischen Familien seit einigen Tagen zu Gast. Seit 7 Jahren sind Kika und ihr Mann Anour Herz und Seele der Finca und haben sie in ein Zuhause auf Zeit für unzählige Reisende verwandelt.

Wir fühlen uns wie lange ersehnte Gäste, als wir dort ankommen. Wir werden herzlich in die Arme geschlossen und mit echter Freude, süßem Tee und marokkanischen Keksen begrüßt. Kika und Anour sind vor langer Zeit in Marokko aufgebrochen, gemeinsam mit ihren drei inzwischen erwachsenen Kindern vier Jahr durch Südamerika gereist, bis sie schließlich in Kolumbien ein Zuhause gefunden und mit großer Liebe und Hingabe diesen wunderschönen Ort für andere Reisende geschaffen haben. Einst gehörte die Finca dem Chef des Cali-Drogenkartells und diente ihm als Wochenenddomizil für wilde Feiern mit seinen Vertrauten. Doch dann überfuhr und tötete er eines Tages bei einem Autorennen auf der vorbeiführenden Straße einen Bauern aus der Nachbarschaft und dessen Sohn. Als „Wiedergutmachung“ überließ er der Frau, die Mann und Kind verloren hatte, das Anwesen. Viel zu groß für sie, um es zu bewirtschaften, verkaufte sie es Jahre später an Kika und Anour. Inzwischen ist dem Ort seine dunkle Vergangenheit nicht mehr anzumerken, es ist ein offenes Haus voller Pflanzen, Farben, Kunst und Schönheit. Es ist so leicht, sich hier wohlzufühlen, dass wir – wie schon viele Reisende vor uns – länger als geplant bleiben. Auch die 13 Kinder schließen Kika unmittelbar ins Herz und beginnen, sobald sie von ihrem bevorstehenden Geburtstag erfahren, für sie zu basteln und zu malen.

Wir verbringen wunderbare gemeinsame Tage, werden von Anour köstlich marokkanisch bekocht, von Kika mit vielen wertvollen Informationen für unsere weitere Reise versorgt, die Kinder organisieren sich selbst, bekochen sich in der kleinen Küche, veranstalten einen open Air Filmabend – Zeichentrick für die Kinder, französische Komödie für die Erwachsenen – knüpfen Armbändchen, spielen stundenlang im kleinen Baumhaus, die Mädchen haben Spaß daran, Mattis und Hannes mit hübschen Flechtfrisuren zu versorgen und schließlich backen alle gemeinsam Kuchen und Muffins für die Überraschungsgeburtstagsfeier für Kika.

Wir Erwachsenen genießen die Zeit miteinander und jeder für sich, verbringen sie mit Landkarten und Reiseführern auf der wunderschönen offenen Terrasse, in langen Gesprächen bei Whiskey und Tee mit Anour und Kika und lassen es uns einfach gut gehen.

Es sind Begegnungen wie diese, die uns über alle Reiseerfahrungen hinaus inspirieren, bereichern und an die wir oft zurückdenken.

Nach fünf Tagen auf der Finca La Bonanza reisen wir alle gemeinsam ab, jedes Kind von Kika mit einer schützenden Hand der Fatima beschenkt. Der Hof wird leer, als die vier Wohnmobile der vier Familien ihn verlassen und jede Familie, zumindest vorübergehend, wieder ihrer eigenen Wege zieht.

Schon seit wir die Grenze zu Kolumbien überquert haben, sind wir in unterschiedlichen Kombinationen miteinander unterwegs, immer wieder auch mit Kindern der anderen Familien bei uns im Bus und unseren Jungs in den anderen Wohnmobilen, haben gemeinsam die erste Nacht in Kolumbien beim Sanktuarium von Las Lajas verbracht, waren miteinander in Popayan, haben dort das gesamte Obergeschoss eines Restaurants mit Leben gefüllt und sind im Konvoi problemlos die einzige Strecke gefahren, von der uns geraten wurde, wegen drohender Überfälle unterwegs nicht anzuhalten und schon gar nicht dort zu übernachten. Wir alle haben dasselbe Ziel, unser aller Reise geht in wenigen Wochen zu Ende. Und so können wir davon ausgehen und uns darauf freuen, uns wieder zu begegnen, irgendwo auf dem langen Weg nach Norden.


Kommentare

Eine Antwort zu „Miteinander“

  1. Avatar von Thomas Wiesentheit
    Thomas Wiesentheit

    Das klingt nach einer wunderbaren Zeit in Südkolumbien. Wie toll, dass ihr so gute Einblicke in die indigene Kultur erhalten habt. Solch einen Markt – wenn man durch ihn läuft und die Augen schließt – stelle ich mir vor wie eine sehr vielseitige Reise durch Gerüche und Geräusche. Und bei offenen Augen kommen noch die vielen kräftigen Farben und viel mehr Eindrücke dazu 🙂

    Wie schön, dass ihr auch auf so nette Gesellschaft gestoßen seid und Freund- und Bekanntschaften geschlossen habt.

    Alles Gute euch noch für die verbleibende Zeit!
    Tom mit Familie

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