Seit Wochen versuche ich, einen neuen Blogtext zu schreiben und es gelingt einfach nicht. Hunderte Male habe ich in Gedanken begonnen Sätze zu formulieren, mir eine Struktur, die passenden Worte überlegt – und einfach nichts zu Papier gebracht.
Auch jetzt fließt es noch nicht. Mein Blick schweift aus dem Fenster, neben mir sehe ich das angerostete Gerüst eines Fußballtores, ein kleines Quinoafeld, vor mir den Titicacasee, Brandung wie am Meer und endlos weit. Ganz am Horizont die schneebedeckten Gipfel der Königscordillere, leuchtend im Licht der untergehenden Sonne. Am Strand liegen bunte Fischerboote neben großen Bündeln aufgewickelter Netze, ein paar Männer waschen ihre Autos im seichten Wasser, zwei Frauen treiben eine kleine Herde Schafe, Lämmchen und Esel vorüber.
Ich merke, wie ganz langsam meine Anspannung nachlässt, wie ich ruhiger werde und endlich wieder, noch ohne zu wissen, was dieser Text alles erzählen wird, schreiben kann.
Wir werden Pause machen. Die letzten Wochen waren anstrengend, wir mussten uns anstrengen, hatten einen Teil unserer Leichtigkeit und der Lust am Unterwegssein, Entdecken und Erkunden verloren, sind vielleicht auch erschöpft nach einem halben Jahr so voller Eindrücke. Alles fühlt sich schwer an, nichts kann mehr wirkliche Begeisterung wecken, stattdessen gibt es viel Rückzug, Passivität, Dünnhäutigkeit und „ist mir egal“.
Es hat einige Zeit, Frustration, Tränen, Schlaflosigkeit, Diskussionen, Hilf- und Ratlosigkeit gebraucht, bis wir heute die Reißleine gezogen haben, bis wir verstanden und akzeptiert haben, dass wir eine Pause brauchen und unsere Reise nach einem halben Jahr möglicherweise eine Neuausrichtung.
Wir wollen es uns wieder leicht machen, gemeinsam überlegen, wie wir unsere Reise gut miteinander fortsetzen können – vielleicht anders als bisher, wir wissen es noch nicht. Doch wir haben den ersten Schritt getan, haben unser Unbehagen, unsere Gedanken, unsere Ratlosigkeit mit den Jungs geteilt, ausgsprochen, was für alle spürbar im Raum stand.
Und eine erste Entscheidung getroffen: wir werden nicht, wie es vernünftig und sinnvoll wäre, als nächstes Ziel Cusco und Machu Pichu ansteuern. Vernünftig wäre es, weil wir jetzt gut höhenadaptiert sind, weil es die praktischere Strecke ist, weil … ja, warum eigentlich noch? Weil es das übliche nächste Highlight ist nach dem Titicacasee? Rational spricht vieles dafür. Aber leicht fühlt es sich nicht an. Leicht und verlockend ist der Gedanke, die große Höhe, die Kälte, die Kurzatmigkeit nach vielen Wochen zu verlassen. Ans Meer zu fahren, an den Pazifik, dorthin, wo es warm ist. Das fühlt sich leicht an, nach Weite, Durchatmen und Erholung. Ob es tatsächlich so werden wird wissen wir nicht. Und wie es dann weitergehen wird auch nicht, aber wir haben wieder die Freiheit, unseren ganz eigenen und genau jetzt stimmigen Weg zu finden.
Meine Gedanken gehen zurück zu den letzten Wochen – phantastisch schön, faszinierend unbekannt, bedrückend arm, unendlich vielfältig und immer herausfordernd – so haben wir Bolivien erlebt. Wir waren in völliger Einsamkeit und mitten im Trubel, sind durch Müllhalden und unbeschreiblich schöne Natur gefahren, haben uns um Straßenblockaden und durch Schlamm gekämpft, die unendliche Weite und die durch die Inkakultur geprägte Landschaft des Lago Titicaca bewundert und sind zuletzt mit göttlichem Segen nach Peru eingereist. Aber der Reihe nach…
Jenseits
Diesel- und Wassertank sind bis zum Rand gefüllt, zusätzliche Trinkwasserkanister im Kofferrraum verstaut, Obst, Gemüse und haltbare Lebensmittel in Kisten und Körben – wir sind bereit für die Lagunenroute. Was genau uns dort erwartet? Wir haben viel gelesen über schlechte Pisten, festgefahrene Autos, unzureichende Spritmengen, eiskalte Nächte – ja, wir sind gespannt und auch ein bisschen aufgeregt, besorgt, ob der Bus die Strapazen aushalten wird, wir die Höhe bis 5000 m vertragen, Wasser und Diesel ausreichen. Denn hier gibt es nichts. Wir sind jenseits. Jenseits von allem. Kein Laden, kein Handyempfang, keine Tankstelle, keine Unterkunft. Nur wir und eine Umgebung, eine Natur, die uns den Atem raubt, so überwältigend schön, wie wir sie uns niemals hätten vorstellen können.
Es ist früh am Morgen, als ich vor den Bus trete und auf den kleinen Hügel hinter unserem Stellplatz steige. Die Sonne schickt ihr erstes Licht über die Berge, ist aber noch lange nicht zu sehen, der Himmel beginnt gerade erst in zartem Blau zu leuchten. Nach einigen Minuten schaue ich mich um, sehe unter mir den Bus neben der kleinen Wasserfläche stehen, ein Stück weiter die größere Lagune, umgeben von Bergen mit schroffen, teils schneebedeckten Gipfeln. Es ist vollkommen still, nichts regt sich, kein Laut ist zu hören, nicht einmal der Wind weht.
Es ist ein zauberhafter Moment, ein Moment umfassender, vollkommener Ruhe.
Es gibt nichts zu tun, nichts zu wollen und nichts zu können. In diesem Moment bin ich jenseits aller Anforderungen, aller Verpflichtungen und aller Erwartungen. Ich darf einfach nur da sein, wahrnehmen und erleben, wie langsam das Morgenlicht intensiver wird, wie es die Berge rot aufleuchten lässt, die Wolken sich zart rosa im Wasser spiegeln, wie ein Schwarm Flamingos aus der Lagune aufsteigt und über mich hinwegzieht in den heller werdenden Himmel hinein.
Schweigend und glücklich beobachte ich, wie die Berge mit der aufgehenden Sonne ihr Aussehen wandeln, immer wieder neu und anders erscheinen und zugleich so unverrückbar erhaben in den Himmel ragen. Es ist ein Erlebnis, das sich mir tief einprägt. Wann jemals gibt es in unseren normalen Leben diese Momente, in denen wir vollkommen frei sind von allem, was an uns zieht, etwas von uns fordert, erfüllt werden will? Hier kann ich für ein paar kostbare Momente spüren, wie unendlich wohltuend und erfüllend es ist, einfach sein zu dürfen, in einer Stille und umgeben von einer Kraft und Schönheit, die kaum in Worte zu fassen sind.
Auch wenn dieser Morgen für mich von ganz besonderer Schönheit ist – eigentlich sind unsere ganzen vier Tage auf der Lagunenroute ein einziges Staunen über diese unfassbar schöne, erhabene Natur. Wir durchqueren auf breiten Sandpisten scheinbar endlose Hochebenen, rote, schieferfarbene und gelbe Erde wechseln sich ab, rumpeln langsam über steinige schmale Wege, durchqueren ein schlammiges Bachbett und seegroße Pfützen, fahren in großer Höhe durch frisch gefallenen Schnee, mit Schwung durch tiefen Sand, unter wilden Gewittern und in strahlendem Sonnenschein. Größere und kleinere Lagunen tauchen vor uns auf, durch Mineralien und Mikroorganismen rot und violett leuchtend und bevölkert von manchmal nur wenigen, manchmal Hunderten von Flamingos.
Nach einer Nacht in einem von Chinchillas bewohnten Canyon brechen wir noch vor Sonnenaufgang auf – wir wollen, noch bevor der morgendliche Wind zu wehen beginnt, einen ganz besonderen Ort erreichen. Mit noch müden Kindern fahren wir in immer größere Höhe, im Rückspiegel glühen die Berggipfel in der aufgehenden Sonne und der Bus wirft lange Schatten auf den rot leuchtenden Sand.
Als wir uns den 5000 Höhenmetern nähern, entdecken wir die erste schmale Dampfsäule, die steil in den nun hellen Himmel aufsteigt. Und nur kurze Zeit später stehen wir inmitten gewaltiger Dampfwolken. Plötzlich fühlen wir uns dem Erdinneren ganz nah, können es riechen, hören und spüren. Zu unseren Füßen blubbert in riesigen Löchern grauer Schlamm, schleudert die aufsteigende Hitze Schlammfetzen in die Höhe. Immer wieder nehmen uns die zart nach Schwefel duftenden Dampfwolken die Sicht, verschlucken uns ganz und gar und geben dannn wieder den Blick frei auf weitere Erdspalten und -löcher, durch die sich die vulkanische Energie mit Nachdruck einen Weg nach aussen bahnt. Keiner von uns hätte sich wohl gewundert, wenn Nepomuk, der kleine Drache, sich plötzlich mit zusammengekniffenen Augen und quäkender Stimme über die morgendliche Störung beschwert hätte…
Am südlichsten Punkt unserer Route kommen wir der Erdwärme noch näher. Hier gibt es heiße Quellen, in zwei große Becken eingefasst und mit 38° genau richtig und eine Wohltat nach knapp 10 Tagen ohne Dusche. Wir lassen uns lange im warmen Wasser treiben, genießen die Entspannung, den Blick auf die angrenzende Lagune, die Flaminos und die Berge. Als ein Gewitter aufzieht wird es Zeit für uns weiterzuziehen, zurück Richtung Norden. Wasser und Diesel reichen noch gut für zwei Tage, die Jungs haben so langsam genug von rumpeligen Pisten, Bergen und Gestein und so verabschieden Jan und ich uns etwas wehmütig von dem Gedanken noch weiter Richtung Süden zu fahren, noch weiter in diese zauberhafte Natur einzutauchen, auch wenn die Verlockung, weiterhin und noch ein bisschen länger jenseits zu bleiben, groß ist.
Für unsere letzte Nacht hier finden wir noch einen ganz besonderen Ort – das Valle de las Rocas. Inmitten riesiger, bizarr geformter Felsen verbringen wir noch einen Tag und eine Nacht, klettern, genießen die Aussicht, lassen uns von wachsamen Chinchillas beobachten und stehen stumm und staunend unter einem über und über funkelnden Sternenhimmel.
Wie an den anderen ganz besonderen Orten der Lagunenroute, begegnen wir auch hier für kurze Zeit Gruppen von Tourjeeps, die vollgepackt mit Touristen die Highlights ansteuern, für kurze Fotostops halten und in Staubwolken gehüllt wieder verschwinden. Auch unser grüner Bus wird vor den roten Sandsteinfelsen zum beliebten Fotomotiv.
Jenseits dieser kurzen Begegnungen sind wir allein, können in unserem Tempo und ganz nach unseren Bedürfnissen weiterfahren und anhalten, genießen, staunen und bewundern. Auch nach vier Tagen bleibt dieses überwältigende Gefühl der Schönheit, dieses demütige Gefühl, dass uns eine Natur zum Nicht-fassen-können umgibt. Es fällt mir nicht ganz leicht, nach dieser Erfahrung wieder im Leben mit Einkaufen, Planen, Internet anzukommen. Und die Sehnsucht nach der tiefen Ruhe jenseits von allem wird bleiben.
Mittendrin
Der Weg nach La Paz ist holperig. Schon in Oruro, auf nicht einmal halber Strecke, stecken wir fest. Die Minibusfahrergewerkschaft streikt. Und das bedeutet in Bolivien vollständige Verkehrsblockade. Kreuz und quer stehen die Minibusse auf der Straße, nichts geht mehr. Und wie lange das dauert, kann keiner sagen. Also schließen wir uns einem Geländewagenfahrer an, der einen Umweg kennt, folgen ihm so lange, bis er mit Schwung durch einen tiefen Bach fährt. Das ist uns mit unserem schweren Gefährt zu riskant und so winken wir ihm noch einmal zu und suchen nach einer anderen Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen. Einige Kilometer und einen großen Bogen durch Felder und Wiesen später sind wir wieder auf der Umwegstrecke. Der Asphalt endet, die Erde ist aufgeweicht, wir sind in der Regenzeit. Dennoch kommen wir ganz gut voran, haben mehr Glück als der Coca-Cola-Laster, der von einem Kollegen aus dem Schlamm gezogen werden muss und hoffen schon, bald wieder auf festerem Untergrund unterwegs zu sein, als wir vor uns eine kleine Menschenmenge und mehrere stehende Fahrzeuge sehen. Ein Reisebus hat sich festgefahren, ist im Schlamm eingesunken, die Passagiere stehen daneben, warten geduldig, während ein paar Männer zu schaufeln beginnen, dann kommt uns ein Kleinbus entgegen, bleibt im Matsch stecken und muss von den Fahrgästen herausgeschoben werden. Und da sollen wir durchfahren? Doch es bleibt uns keine Wahl, wir wollen weiter, haben eine Verabredung in La Paz und wenden ist hier sowieso nicht möglich. Also warten wir, bis der Kleinbus sich seinen Weg gebahnt hat, halten uns fest, nehmen Schwung und fahren unter reichlich Adrenalinauschüttung, mit Schwanken, Rutschen und einer guten Portion Glück durch den tiefen Schlamm bis wir wieder auf festerem Grund ankommen. Mit leicht zittrigen Händen, aber erleichtert und beeindruckt davon, was Jan und der Bus leisten können, gelangen wir nach ein paar Kilometern tatsächlich wieder auf eine asphaltierte Straße.
Doch der Bus scheint in den letzten Tagen gelitten zu haben. Kurze Zeit später schrecken wir auf, ein lautes Geräusch übertönt plötzlich den Motor – wir halten an und sehen: der Auspuff ist gebrochen. Gut, dass der nächste Ort nicht weit ist und wie fast überall findet sich auch hier schnell ein Mechaniker, der den Auspuff schweißen kann.
Ohne weitere Unterbrechungen und Hindernisse fahren wir schließlich die letzten Kilometer bis La Paz.
Kaum haben wir unseren Stellplatz beim Hotel Oberland erreicht, kommt Gert vorbei. Mit ihm sind wir verbredet. Ursprünglich aus Deutschland stammend, lebt er seit seinem 7. Lebensjahr fast ununterbrochen in Südamerika und seit 30 Jahren in La Paz. Der perfekte Stadtführer für uns. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen bei ihm zuhause, nur wenige hundert Meter von unserem Stellplatz entfernt. Joschi darf den Tag in seinem Hof und Garten verbringen. Und dann geht es los, mitten hinein in das quirlige, trubelige, intensive und dichte Stadtleben des Regierungssitzes und der größten Stadt Boliviens. In La Paz unterwegs zu sein, bedeutet ein kontinuierliches Auf und Ab. Das Stadtzentrum mit den Regierungsgebäuden, den Vierteln der Mittel- und Oberschicht, den Universitäten und großen Schulen liegt im Tal, eingebettet zwischen den Bergen. Hier gibt es kleine Parks, schöne Plätze, ist das Klima milder und die Luft nicht ganz so dünn. Und dann gibt es El Alto, eine Art Schwesterstadt, entstanden und kontinuierlich gewachsen auf der Höhe, weit oben auf der Hochebene und inzwischen größer als die Stadt im Tal. Hier sind Klima und Lebensbedingungen rauer, hierher zieht es die Indigenen aus den umliegenden Dörfern um ihre Waren zu vertreiben oder auch um zu bleiben, mit allem, was ihr Leben auf dem Dorf ausmachte, mit Kühen, Hühnern und Schafen, die am Straßenrand ihr Futter suchen. Der Übergang zwischen unten und oben, zwischen La Paz und El Alto ist fließend, dicht an dicht kleben die Häuser an den steilen Berghängen, durchzogen von steilen Treppen oder serpentinenförmigen, schmalen Straßen. Kaum ein Raum ist zwischen den Häusern zu sehen, jedes Fleckchen Erde ist genutzt und bebaut. Dank Gert können wir beides erleben, unten und oben sein und in beidem mittendrin. Zunächst aber schweben wir darüber hinweg. La Paz ist überzogen von einem Netz aus Schwebebahnen, dem Teleferico. 10 Linien ermöglichen es den Pacenos, nahezu jeden Ort der Stadt lautlos schwebend durch die Luft zu erreichen. Es ist eine faszinierende Art, die Stadt zu erleben. Die Ausblicke sind atemberaubend, mal gleiten wir hoch über der Stadt, können bis zu den schroffen Gipfeln der Andenkordillere schauen, dann wieder schweben wir nur wenige Meter entfernt über die mit Kunstrasen belegten Dachterrassen der Villen oder an den Fenstern der an den Hang gebauten kleinen Häuser auf dem Weg nach El Alto vorüber. Wir sehen Kinder und Hunde auf Dächern spielen neben Frauen, die Wäsche waschen, große Gemälde auf den Flachdächern von Familiengräbern, blicken in Hinterhofwerkstätten und auf exerzierende Marinesoldaten, sehen die bunten Dächer langer Reihen von Marktständen von oben und kommen schließlich an unserem ersten Zwischenstop an. Kurz unterhalb von El Alto gibt es einen Aussichtsturm und darunter eine freundliche Dame, die den Schlüssel dafür in Verwahrung hat und die Gert, wie so viele Menschen in dieser Stadt, kennt. Leider hat sie heute den Schlüsel vergessen, auch wenn sie ihre vielen Rocktaschen noch so oft durchsucht, sie kann ihn nicht finden. Nach ein paar freundlichen Worten von Gert und seinem Angebot, ihr ein Taxi zu bezahlen läuft sie los, den Berg hinunter und kommt einige Minuten später wieder zurück, den Schlüssel in der Hand. Wir kündigen an, im Anschluss an die Turmbesteigung ihren Mocochinchi, gekochten, gewürzten Pfirsichsaft zu kosten und machen uns an den Aufstieg. Das ganze Panorama der Stadt liegt vor uns, bis an den Horizont ziehen sich die Häuser – ein unbeschreiblich beeindruckender Anblick.
Der Mocochinchi ist würzig-süß und mit ausreichend Zucker im Blut steigen wir in die nächste Gondel, das letzte Stück hinauf nach El Alto.
Es ist Donnerstag und das bedeutet, es ist Markttag in El Alto. Ein riesiger Markt, unmöglich, jede mit Ständen gefüllte Straße zu erkunden und wir sind froh, in Gert einen kundigen Führer zu haben. Er kennt einige der Verkäuferinnen, weiß, wo es besonders interessante Waren zu entdecken gibt und wer zu einem kleinen Schwatz bereit ist.
Zuerst jedoch führt er uns ganz an den Rand des Marktes, an die äußerste, steil nach unten abfallende Kante El Altos. Entlang eines schmalen Fußweges reihen sich hier nahtlos zahlreiche Bretterbuden aneinander, Holzkohlebecken stehen vor den halbhohen Türen. Dies sind die Praxen der Yatiri, der spirituellen Heilkundigen der indigenen Aymara. Hierher kommen die Menschen und warten oft in langen Schlangen auf Rat und Hilfe in allen Lebenslagen. Das Angebot reicht von Befreiung von Hexerei und bösen Flüchen über Erfüllung materieller Sehnsüchte bis hin zu Verwünschungen persönlicher Feinde, Rat in auswegslosen Situationen und Heilung körperlicher Leiden.
Nur eine Straße weiter ist all das zu finden, was auf Geheiß des Heilers notwendig ist, um die jeweils passende Zeremonie durchzuführen. Hier sind die Stände und Buden der kundigen Frauen, die alles anbieten, was dazu beiträgt, die Geister und Götter gnädig zu stimmen, und Glück, Erfolg, ewige Liebe und was immer die Herzenswünsche der Menschen sein mögen, günstig zu beeinflussen. Kleine Plättchen aus Zucker stapeln sich in den Regalen, bemalt in bunten Farben mit allen nur erdenklichen Wünschen, vom eigenen Haus bis hin zum Universitätsdiplom. Das passende Plättchen wird kombiniert mit Kräutern, Harzstückchen, Glitzerfäden, Schnaps und uns unbekannten anderen Zutaten auf einer Platte angerichtet. Diese sorgfältig und individuell zusammengestellte Opfergabe wird entweder alleine zuhause oder zur Unterstützung der Wirkung in einer durch den Yatiri geleiteten Zeremonie verbrannt.
Es ist wie ein Eintauchen in eine ganz andere Welt, als wir an all den Ständen mit den unbekannten Kräutern, Wurzeln, Tinkturen, Talismanen, Glücksbringern vorbeigehen. Befremdlich wirken die an vielen Ständen aufgehängten getrockneten Lamaföten oder -babys auf uns. Sie sind einer der wichtigste Glücksbringer der indigenen Kultur. Und auch Gert erzählt, dass er beim Bau seines Hauses in einer traditionellen, von einem Yatiri geleiteten Zeremonie einen Lamafötus unter dem Fundament vergraben hat. Manchmal ergeben sich kurze Gespräche und berührende Momente mit einer der Verkäuferinnen. Eine alte Frau erklärt bereitwillig, was sie vor sich ausgebreitet hat, um dann zu fragen, was wohl ein Flug in unser Land koste. Als wir uns verabschieden, bittet sie uns wiederzukommen um sie mitzunehmen, sie wolle so gerne unser Land kennenlernen.
Wir verlassen den sogenannten Hexenmarkt und gelangen in die Straße der Schneiderinnen und Schneider. Hier gibt es die traditionellen, weitschwingenden Röcke mit all den notwendigen Unterröcken in allen Farben zu kaufen. Wieder kennt Gert eine der Verkäuferinnen und lachend erklärt sie mir mit Hilfe einer zufällig vorbeikommenden älteren Frau, dass ich ganz sicher erst noch einen breit gepolsterten Hüftgürtel unter den Röcken tragen müsse – nur wirklich breite Hüften entsprechen dem Schönheitsideal der Cholitas. Wie verlockend und entspannend, sich nie wieder Gedanken um den Hüftumfang machen zu müssen – je ausladender, desto schöner schwingen die Röcke. Es ist nur ein winziger Moment, als die Verkäuferin und ich uns beim Abschied in die Augen schauen und doch spüre ich jenseits aller kulturellen Unterschiede eine warme Verbundenheit darin.
Wir gehen weiter, kommen an Bretterverschlägen vorbei, aus denen die Schuster ihre Köpfe strecken, sehen Schlüsselmacher, Kokaverkäuferinnen, Fischhändlerinnen und Herrenschneider, probieren Hüte auf beim Hutputzer, kaufen Drachenfrüchte, fritierte Schweinehaut und Schokolade.
Bei der Ankäuferin von Echthaar erfahren wir, dass wir für 45cm der blonden Haare unserer Jungs rund 200 Dollar bekommen würden, entscheiden uns dagegen, lassen die Stände mit Autoersatzteilen, CDs, gefälschten Markenjeans, gewebten Ponchos, Unterwäsche, Kerzen, Schrauben, Fahrradreifen, und Spielzeug hinter uns und steigen erfüllt von unzählbaren Eindrücken wieder in den Teleferico, schweben hinab in die Altstadtgassen von La Paz.
Nach einem Mittagssnack mit Saltenas und Empanadas (mit reichlich Soße bzw. eher trocken und damit kleckerfreier essbare gefüllte Teigtaschen) führt uns Gert in die Calle Caen, die einzige Straße der Stadt, in der sich noch unversehrte Häuser der Kolonialzeit finden. Ein Touristenziel, malerisch bunt und mit hübschen kleinen Läden. Wir statten dem winzigen Schokoladenladen einen Besuch ab und Gert spendiert als Belohnung für (fast) kleckerfreies Saltena-Essen Schokoküsse für alle.
Nach einem weiteren Aussichtspunkt mit spektakulärer Rundumsicht auf La Paz erreichen wir über schmale Gasen und nach einer Fahrt mit einem der vielen kleinen Busse, dessen auf der Heckscheibe angebrachtes Motto „Dios me guia, un loco me maneje“ wir erst nach dem Aussteigen entdecken, die zentrale Plaza und damit das Zentrum der Macht. Weit überragen das neue Parlamentsgebäude und der Präsidentenpalast die ehemaligen kolonialen Regierungsgebäude – ein Statement der Morales-Regierung? Im Schatten der hohen Türme wirkt das ehemalige Parlament klein und bescheiden. Lange sitzen wir auf den Stufen der Plaza, erfahren von Gert viel über Geschichte und Politik des Landes, umflattert von den unzähligen Tauben und erfüllt nach einem langen, intensiven Tag. Schließlich steigen wir ein letztes Mal in den Teleferico, fahren zur Endstation und mit einem Taxi zurück zu Gerts Wohnung. Joschi rennt vor lauter Freude, uns endlich wieder zusehen, wie wild im Kreis, wir hingegen fallen nach einem gemeinsamen Abendessen müde, aber begeistert und mit bunt durcheinander wirbelnden Eindrücken und Gedanken im Kopf in unsere Betten.
Zwei Tage später machen wir uns wieder auf den Weg – nach einem kurzen Zwischenstop in El Alto. Der Stoßdämpfer hat die holperige Fahrt hierher nicht gut überstanden, ist abgerissen und muss wieder angeschraubt werden. Wir haben Glück, der Mechaniker hat Zeit und wenig später lassen wir La Paz und El Alto, diese großen, faszinierend lebendigen Städte voller Kontraste und Widersprüche, hinter uns.
Wir sind unterwegs zu unserem nächsten Ziel, dem Titicacasee und hoffen auf ein paar erholsame Tage am Seeufer. Schon von weitem leuchtet uns die bis an den Horizont reichende blaue Fläche entgegen. Der Lago Titicaca ist ein See der Superlative, der größte See Südamerikas, einer der höchstgelegenen schiffbaren Seen der Welt, 13mal größer als der Bodensee und mystischer Ursprungsort der Inkakultur. Am Horizont erheben sich die Spitzen der Königscordillere in den Himmel, die vielen malerischen größeren und kleineren Inseln sind fast durchgehend von Terrassen der Inkazeit überzogen und auch heute wird hier noch wie vor vielen hundert Jahren Landwirtschaft betrieben und die kleinen Äcker werden von Hand oder mit Hilfe eines Ochsen oder Esels bestellt. Da der See als Wärmespeicher dient, gedeihen auch in 3800m Höhe Mais, Quinoa, Bohnen und Kartoffeln.
Wir erreichen einen Stellplatz am Ufer und haben Glück. Wir treffen auf Bekannte aus La Paz. Chris, Angela und Frank sind schon lange in ihren Reisetrucks miteinander unterwegs – und heute zu unserem Glück auch hier. Kaum sind wir nämlich auf den Strand gefahren, versinken auch schon die Reifen des Busses im tiefen Kies, graben sich tief und tiefer ein. Wir packen die Schaufel aus und schrauben die Sandbleche los, doch noch bevor wir richtig begonnen haben zu graben, stehen Chris und Frank mit Abschleppseil und Haken bereit und ziehen uns mit Leichtigkeit wieder auf festen Boden.
Nach langer Zeit machen wir wieder einmal ein Lagerfeuer am Strand, braten Bananen mit Marshmallows und versuchen, die vielen Eindrücke der letzten Wochen ein wenig zu verarbeiten.
Zwei Tage später finden wir auf einer Halbinsel hoch über dem See einen wunderschönen Stellplatz inmitten der alten, mit kunstvoll geschichteten Steinmauern befestigten Terrassen. Nur wenige Hundert Meter sind es bis hinunter zur kleinen Bucht, die wir uns mit einem freundlichen Esel teilen und in der sich Jan und Hannes ins kalte Titicacawasser wagen. Oben auf unserem Hügel ist es ganz still, ausser einem entfernt vorbeiziehenden Schäfer mit seiner Herde begegnen wir niemandem, weit unter uns liegt die Isla de la Luna im See. Wir erleben die Tage im Rhythmus des Wetters, beobachten, wie abends das tägliche Gewitter heraufzieht, schlafen unterm Regenprasseln, bestaunen den morgendlich schiefergrauen See, wissen, dass er spätestens gegen Mittag wieder blau im strahlenden Sonnenschein leuchten wird und warten schon darauf, dass das tiefhängende Wolkenband abends für kurze Zeit den Blick auf die Spitzen der Anden freigeben wird.
Und wir merken, dass wir erschöpft sind. Es gäbe so viele Möglichkeiten, Inseln zu besuchen, Bootstouren zu unternehmen, doch nichts kann uns wirklich begeistern, nichts verleiht uns die Energie, etwas davon in die Tat umzusetzen.
Und so beschließen wir, nichts von all dem zu unternehmen, sondern uns mit einem Besuch in Copacabana von Bolivien zu verabschieden.
Auch auf dem Weg nach Copacabana, der größten bolivianischen Stadt am Seeufer, machen wir einen Werkstattstop: eine Schraube hat sich in einen Reifen gebohrt, er muss geflickt werden. Gelassen warten wir ab, bis der Mechaniker seine Arbeit getan hat – Schrauben bringen Glück, das wissen wir ja schon – erinnert ihr euch?
In Copacabana bekommt Hannes endlich endlich einen gebratenen Pejerrey aus einer der kleinen Essensbuden am Hafen – darauf hat er schon lange gewartet und hier gibt es Fisch in allen erdenklichen Variationen zu kaufen.
Ausser für Fischgerichte ist diese kleine Stadt bekannt für ihre große Wallfahrtskirche, gewidmet der Virgen de Copacabana, einer Marienstatue aus dunklem Holz, geschnitzt im Jahr 1583 von einem Nachfahre der Inka. Wenig später schon wurden der Jungfrau Wunder zugeschrieben, die Basilika wurde ihr zu Ehren errichtet und schließlich sprach der Vatikan sie heilig. Ihre Berühmtheit in ganz Lateinamerika ist so groß, dass sogar eine kleine Kapelle an einem berühmten Strand in Rio de Janeiro nach ihr benannt wurde…
Ein weitere Besonderheit Copacabanas sind die täglich im Schatten der Basilika von einem Priester durchgeführten Autosegnungen – eine Art bolivianische Unfallversicherung.
Mattis wünscht sich schon lange, unseren Bus ebenso schön zu schmücken, wie wir es bei vielen Autos und Reisebussen gesehen haben – hier ist nun endlich die Gelegenheit dazu. Vor der Segnung kommt der Schmuck. Kleine Stände mit allem nötigen Zubehör, Blumen, Girlanden, Blütenblätter, Schleifen, Schnaps und Reis, stehen bereit und so verzieren wir unseren Bus mit Blumen an den Rückspiegeln und einer bunten Girlande über der Motorhaube. Um halb drei erscheint der Priester und schreitet segnend die Schlange der wartenden Autos und ihrer Besitzer entlang. Großzügig verteilt er mit Hilfe eines kleinen Besens das Weihwasser aus einem Eimer über Fahrzeug und Passagiere. Wir verstehen nur wenig von seinen Segensworten, und doch verlassen wir anschließend zufrieden und mit einem freudigen Gefühl Copacabana. Bis zur peruanischen Grenze sind es nur noch wenige Kilometer.
Nun sind wir schon seit einigen Tagen in Peru – und hier schließt sich der Kreis zum Beginn des Textes. Während ich diese Worte schreibe, haben wir den Titicacasee schon weit hinter uns gelassen, sind durch Puno und Juliaca gefahren, stehen noch einmal auf einer gewaltigen Hochebene auf 4500m, ein paar Hundert Meter von der Straße entfernt neben den halbzerfallenen Häuschen eines verlassenen Dorfes. Neben dem Bus steht aufmerksam eine kleine Herde Vicunas und beginnt aufgeregt und alarmiert in hohen Tönen zu fiepen, sobald sie Joschi entdecken. Heute werden wir noch bis Arequipa fahren, in die weiße Stadt Perus. Bestimmt ein guter Ort um Geburtstag zu feiern. Von dort ist es dann nur noch ein Katzensprung ans Meer. Und dann? Das wird sich zeigen…
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