Viel. Staunen und Bewundern



Viel. Vielleicht ist das das passende Wort dafür, wie ich die Tage im Regenwald erlebe. Es ist alles viel hier. Nicht zu viel, aber viel. Viel Hitze, viel Flora, viel Fauna, viele Geräusche. Intensiv, üppig, im Überfluss. Es ist nicht ein Nebeneinander, sondern ein Auf-, Über- und Ineinander. Kakteen, Blumen, Bäume, Schlingpflanzen wachsen aufeinander, aneinander, ranken, klettern, drängen und schlingen, versuchen, ans Licht zu kommen, tragen Früchte, Blüten, zarte neue, große dunkelgrüne und welke Blätter zugleich. Regenschirmgroß, bizarr ausgefranst, fingerdick, filigran gefiedert. Es blüht, welkt und knospt zugleich.

Und überall dazwischen krabbelt und raschelt, singt und krächzt es, Schmetterlinge in allen Farben und Größen segeln unablässig durch die Luft, immer wieder erhaschen wir einen Blick auf einen der zahllosen farbenprächtigen Vögel mit langen Schwanzfedern, leuchtendbuntem Kopfschmuck und phantastisch gemustertem Gefieder. Zwei Tukane klettern schnäbelnd in einem Baum umeinander herum, Nasenbären kreuzen unseren Weg und große Echsen liegen reglos in der Sonne.

Auch nachts bleibt das “Viel”. In der schwülen, kaum nachlassenden Hitze liegt immerfort ein Klangteppich über der kleinen Stadt, gewebt aus Krächzen, Zirpen, Quaken und Krähen, an- und abschwellendem vielstimmigem Hundegebell und dem Knattern von Motorrollern auf den holperigen Straßen.

Vielleicht fühlen sich kleine Kinder, für die alles, was ihnen begegnet, neu und nie dagewesen ist so, wie ich mich hier immer wieder erlebe. Noch fehlen mir die Kategorien, um all die Eindrücke einordnen, sortieren zu können, ich kann an keine bisherige Erfahrung damit anknüpfen und habe oft auch keine Namen dafür. Stattdessen ist ein Staunen möglich, ein Bewundern, eine Offenheit und ein Wahrnehmen, das keine Kategorien braucht, das ohne rationale Bewertung auskommt, das einfach nur auf das Erleben dessen, was gerade ist ausgerichtet ist. Es ist intensiv und unmittelbar, erschöpft sich nicht und ist in seiner Intensität einfach beglückend.

Es kostet aber auch Kraft und es ist gut, dass jeder von uns eigene Strategien hat, sich abzugrenzen und zu erholen, bevor aus dem Viel ein Zu Viel wird. Lesen, Musik hören, Schreiben, Bilder und Erlebnisse mit Freunden oder Lehrerinnen teilen, die neuesten Fußballergebnisse checken, Ausruhen in der Hängematte, Kuscheln mit Joschi – lauter Möglichkeiten, die vielen Eindrücke wirken und sich setzen zu lassen.

Der Grund, warum wir 900 km in den Regenwald des Dreiländerecks Argentinien/Paraguay/Brasilien fahren ist ein ganz besonderes “Viel”. Viel, viel Wasser: die Iguazú Wasserfälle.

Um die Schönheit der Cataratas von Iguazú auch nur annähernd beschreiben zu können, müssten neue Worte geschaffen werden, vielleicht eines, das so etwas ausdrückt wie unfassbarschönüberwältigendgroßehrfurchtgebietendgewaltigüberschäumendunglaublich.

Auf schmalen Wanderwegen, die ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Wasserfälle eröffnen, gehen wir durch den atlantischen Regenwald.

Schon von weitem hören wir das Rauschen und Brausen und hinter fast jeder Wegbiegung erwartet uns eine immer noch schönere Aussicht auf die herabstürzenden Wassermassen. Vom unteren Wanderweg aus erstreckt sich das ganze Panorama der Wasserfälle vor uns. Als sei ein Wasserfall dieser Größe nicht genug, reiht sich einer an den anderen und in die aufstäubenden Gischtwolken zaubert die Sonne einen Regenbogen. Der obere Weg führt uns an die Abbruchkante. Nur wenige Meter vor dem Abgrund fließt das Wasser noch scheinbar ruhig dahin, um sich dann mit atemberaubender Wucht und hoch aufschäumender Gischt in die Tiefe zu stürzen.

Eine Besonderheit der Iguazú Wasserfälle sind die unzähligen dort lebenden Rußsegler. Sie nisten in Felshöhlen hinter den Wasserfällen, dort sind sie geschützt und finden reichlich Insektennahrung. Um ihre Nester zu erreichen, durchfliegen sie die Wassermassen. Es ist unvorstellbar, wie ein Vogel das überleben kann und wir beobachten fasziniert, wie die schwarzen Schwärme unablässig in den Gischtwolken kreisen und die Wasserfälle durchstoßen.

Zuletzt führt uns der Weg zum Zentrum und Höhepunkt der Wasserfälle: zur Garganta del Diablo, dem Teufelsschlund, einer 100m breiten und 700m langen Schlucht, in die sich die gewaltigen Wassermassen hineinstürzen.

Auf einem 1000m langen Steg überqueren wir breite, ruhig fließende Wassermassen mit vielen kleinen, wild überwucherten Inseln darin, sehen Kormorane, Welse und Schildkröten.

Als wir am Ende des Steges stehen, verschlägt es uns die Sprache.

Der Lärm ist ohrenbetäubend, es braust und rauscht und donnert und schäumt und tobt und tost. Unaufhaltsam stürzt das Wasser donnernd in die Tiefe, steigen die Gischtwolken himmelhoch auf , leuchtet der Regenbogen und schießen die Scharen von Rußseglern pfeilschnell durch die Wasserwände. Es ist ein Anblick, der uns die Luft anhalten und mit leuchtenden Augen einfach nur hingerissen und fasziniert schauen lässt. Winzig klein fühle ich mich angesichts dieser Urgewalt und zugleich könnte ich die Welt umarmen vor Glück. Keine Kategorie kann dieses Erlebnis fassen. Es bleibt Staunen und Bewundern.

Nass bis auf die Haut und glücklich bis in die Haarspitzen.


Für alle, die gerne ein paar mehr Fakten hätten:

Die Cataratas de Iguazú bestehen aus 270 Wasserfällen mit einer Höhe zwischen 60 und 80m, erstrecken sich über eine Breite von 2700 m und bilden eine natürliche Grenze zwischen Argentinien und Brasilien. Pro Sekunde stürzt sich der Rio Iguazú mit 1,7 Millionen Litern Wasser über die Abbruchkanten. Der Name entstammt der Sprache der Guarani, der indigenen Bevölkerung dieser Region und bedeutet “großes Wasser” – weitaus treffender als der Name “Cataratas de Santa Maria”, den der erste europäische Entdecker Álvar Núñez Cabeza de Vaca, den Wasserfällen gegeben hatte.


Kommentare

15 Antworten zu „Viel. Staunen und Bewundern“

  1. Avatar von Agneta
    Agneta

    Danke, dass ihr uns teilhaben lasst! Wunderschöne Eindrücke!
    Ich werde auch nie vergessen, wie ich völlig ergriffen vor den Niagarafällen, oder dem Uluru stand. Natur kann ganz schön ehrfürchtig machen.
    Gute Reise weiterhin!

    1. Avatar von Anni
      Anni

      Hi Agneta, schön, dass ihr auch dabei seid – ja, Ehrfurcht ist ein Gefühl, dem ich hier häufiger begegne 🙂
      Liebe Grüße an euch alle!

  2. Avatar von Sabine Bellwinkel
    Sabine Bellwinkel

    Heute habe ich aus Worblingen euren reiselink bekommen. Ich bin begeistert über die beeindruckenden und großartig geschriebenen Berichte.
    Genießt die gemeinsame Zeit und ich freue mich an der besonderen Reise „teilnehmen“ zu können.
    Alles Gute
    Cousine Sabine aus Düsseldorf

    1. Avatar von Anni
      Anni

      Hallo Sabine, herzlich Willkommen und schön, dass du auch dabei bist! Viele Grüße aus Viedma nach Düsseldorf!

  3. Avatar von Ronny Pfefferkorn
    Ronny Pfefferkorn

    Wow!!! Tolle Bilder, super Bericht. Freuen uns immer über die Ankündigungsmail von losgeFAHRen das es wieder was zu staunen gibt. Haltet durch und weiterhin alles Gute
    Eure Stegauracher!

  4. Avatar von Gaby Wild
    Gaby Wild

    ich bin fasziniert von diesen Bildern und von deinen schönen Reiseberichten, ich freue mich auf die nächsten.
    Liebe Grüße Gaby

    1. Avatar von Anni
      Anni

      Wie schön, das freut mich sehr! Liebe Grüße von uns allen!

  5. Avatar von Susann
    Susann

    Wow! Ich habe die Fülle, das Viel, das lebendige Mit-, unter-, über- und ineinander, die Geräusche, das Krabbeln und Wuseln gleich wieder im Gefühl – Dschungel my love! Danke für deine lebendigen Beschreibungen, das liest sich so wunderbar.

    1. Avatar von Anni
      Anni

      Hab an dich und deine Berichte aus Costa Rica gedacht dabei… liebste Grüße und genieß das Dschungelgefühl!

  6. Avatar von Körber Silvia
    Körber Silvia

    Das war wunderschön und ich freue mich auf den nächsten Bericht.
    Liebe Grüße Mina und Silvi

    1. Avatar von Anni
      Anni

      🙂 Hallo Mina, schön, dass du auch dabei bist! Liebe Grüße an euch alle!

  7. Avatar von Ingeborg Weber
    Ingeborg Weber

    danke, dass ich an diesem Viel teilhaben kann.
    Hab heute meine und Xantis Sachen gepackt, weil ich Morgen Früh Richtung Graz starte. Die Eindrücke eurer Reise kann ich auf der Fahrt auch ein wenig wirken lassen.

  8. Avatar von Guenter Erwin Haagen
    Guenter Erwin Haagen

    Toll geschrieben und beschrieben- macht Lust auf mehr

    1. Avatar von Anni
      Anni

      Das freut mich! Dann bis zum nächsten Mal 🙂

  9. Avatar von Kerstin Greitzke
    Kerstin Greitzke

    Wunderschön! 😊🤩

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